Kapitel 46

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Kapitel 46

Weiß erinnerte mich an Krankenhäuser, an die, die deine physischen Verletzungen heilten, nicht um die psychischen. Aber hier tropfte kein Blut, die Wunden waren nicht zu sehen, außer man verursachte sich selbst welche. Spritzen waren Freund und Feind zugleich. Sie beruhigten dich, versetzten dich in eine Trance, aber gleichzeitig raubten sie dir alle Kraft. Sie stahlen deine Freiheit.

Der Mann vor mir bestand schon seit einer halben Ewigkeit, dass ich mit ihm rede, aber ich wollte nicht. Es war schwierig genug mit den Erinnerungen leben zu müssen, da hatte ich keine Lust darüber zu reden. Vielleicht hätte ich es schätzen sollen, dass mich Cour und Lear in Ruhe gelassen hatten.

»Nevra«, sprach mein Psychiater in einem sanften Ton. Er meinte, ich sei eine Kämpferin und ich hatte ihn gefragt, wieso ich dann in einer Irrenanstalt gelandet war.

Sein Lächeln war beruhigend. »Weil auch Kämpfer manchmal Hilfe brauchen und ich will dir welche geben.«
  »Alle, die ich liebe sind weg«, sprach ich. »Vor einiger Zeit hatte ich noch Eltern, ich hatte Freunde und meine Probleme bestanden darin zu entscheiden, wann ich welches Kleid anziehe. Dann habe ich meine ganze Welt verloren, aber ich hatte eine Freundin wie eine Schwester, die mich verstand und zwei Freunde-« Freund konnte ich Duhan wohl nicht mehr nennen. »Jetzt stehe ich hier mit leeren Händen.«

Es fühle sich so an, als hätte ich kein Herz mehr, das zerspringen könnte. Aber irgendetwas musste diesen Körper ja mit Blut versorgen.

Ich schlief viel, wusste kaum mehr, wie ich hier gelandet war. Nur noch mein Wutausbruch war in meinem Gedächtnis und Mahsuns Stimme. Dann war ich plötzlich hier.

Es gab hier eine Art Gemeinschaftsraum, indem wir eine bestimmte Zeit verbringen sollten. Es erinnerte mich irgendwie an das Waisenhaus. Dort war ich nicht frei, aber hier war ich verlorener.

In der Ecke stand ein Klavier, welches gespielt wurde. »Du machst das toll«, sagte ihre Betreuerin. Doch das war alles andere als toll.

Ich setzte mich zu einem Mädchen, das kaum ein Wort sprach. Sie war vielleicht so alt wie ich, vielleicht etwas jünger. Ich wusste, dass sie ziemlich lange schon hier war und ihr Name Lydia war.

Sie erinnerte mich etwas an Kiraz. Sie sahen sich kaum ähnlich. Dieses Mädchen hatte zwar auch schwarzes Haar, ihres aber war glatt ungewöhnlich voll und sie hatte sich die äußeren Haarsträhnen kurz geschnitten, als sie an ein Messer kam. Wie wusste keiner. Ihre Mutter war wohl hergekommen und hatte noch gerettet, was zu retten war. Ihre Augen waren groß und blau, die Lippen voll und rosa. Das Gesicht war blass. Sie wirkte puppenhaft.
Trotzdem hatte sie diese Unschuld und Verletzbarkeit an sich. Es weckte Beschützerinstinkte.

»Du bist sehr hübsch«, sprach ich sie an. Ich war vorsichtig. Es war egoistisch sich mit anderen beschäftigen zu wollen, um den eigenen Schmerz zu vergessen, aber das war mir egal. Ich wollte nur für den Moment vergessen.

Ich konnte nicht kämpfen, Mutter.
Ich konnte nicht kämpfen, Vater.
Jeder Mensch wird sterben. Ihr seid glücklich gegangen. Ich bezweifle, dass ich es kann.

»Perfektion ist die Krankheit der Menschheit«, erwiderte sie mit fester Stimme. Danach redete sie nie wieder.

Ich versuchte es auch nicht bei jemand anderem und als sich Lydia versuchte, das Leben zu nehmen, kamen in meinem Kopf immer wieder Selbstmordszenen auf. Ich versuchte sie zu verdrängen und sprach sie nie laut aus.

Dem Psychiater erzählte ich davon, dass ich wieder Lebensmotivation hatte. Ich behauptete ich wäre zuversichtlich und dass Hoffnung in mir aufkeimte. Ich wollte hier raus und dafür würde ich so einiges tun.

Erst als ein unnötiger Streit in diesem Gemeinschaftsraum entstand, merkte ich, wie wenig man uns als vertraute. Natürlich wusste ich das vorher schon, aber es machte erst dann so richtig Klick. Irgendwie wurde ich in den Streit involviert. Ohne Frage, ohne Erklärung wurden wir zurück in unsere Zimmer mit Spritzen vollgepumpte Venen und der Strafe, nicht mehr im Gemeinschaftsraum für eine Weile sein zu dürfen, geschickt.

Es war vollkommen egal, was passiert war. Hauptsache, es war passiert und fas durfte es nicht. Kindern hörte man zu, uns nicht.

Die Decke war nicht mehr. Es war fast so, als könnte ich den Himmel dadurch sehen. Lag es daran, dass ich diese Medikamente bekam, lag es an der Spritze oder daran, dass ich Gestört war? Vielleicht lag es daran, dass ich in ein Loch ohne Ende fiel. Ein Loch der Sehnsucht. Ein Sehnsuchtsfall.
Ich fiel und verlor dabei alle, die ich liebte.
Ich fiel und verlor dabei mich selbst.

»Da bist du«, hörte ich eine Stimme neben mir. Meinen Kopf in die Richtung der Stimme zu drehen, kostete mich Unmengen an Kraft. Duhan wirkte wie eine Traumgestalt. Vielleicht war er das auch. Vielleicht war er nur ein ein Spiel aus meinem Gehirn. »Wie lange hab ich dich gesucht.«
»Mich gesucht?«
Ich hätte bitter auflachen müssen, die Kraft dazu fehlte mir aber. »Du warst so beschäftigt mit deinem Glück, dass du mich in meinem Unglück hast ertrinken lassen.«

Er hob beide Brauen. »Ich habe dich nicht gefunden. Nevra, ich war im Waisenhaus, aber sie haben mir erzählt, du würdest mich nicht wiedersehen wollen. Wer einmal geht, den brauche ich nicht, sollen deine Worte sein. Aber dem habe ich nie geglaubt. So konntest du nicht sein, nicht die Nevra, die ich kannte.«
»Es ist mehr Schein als Sein, dass wir uns kannten. Ich kenne dich nicht Duhan.«

Er setzte sich an mein Bett uns strich mir das Haar hinters Ohr. Seine Berührung fühlte sich so real an. Als sei er in Haut und Knochen da. Er roch immer noch so süß wie eh und je und erst einmal diese Augen. Diese Augen die die Ruhe in Person zu dein schienen. Herzstillstand, selbst nach all der Zeit und doch hatte er mir keine Hoffnung gemacht gehabt. Ich hatte mir selbst welche gemacht.

»Das stimmt nicht. Ich glaube nicht, dass du mich abgewiesen hättest. Nicht meine Nevra.«
»Hab ich nicht«, flüsterte ich. »Aber weißt du, was ich getan habe? Ich habe jeden Tag gewartet, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde. Er hat zutun, hab ich gesagt, er kann nicht kommen, aber er will. Als ich draußen war, war ich so oft wieder am Waisenhaus. Vielleicht hat er etwas hinterlassen, dachte ich. Ich hatte deine alte Nummer mit deiner Stimme beim Anrufbeantworter und Gott, wie oft habe ich mir deine Stimme angehört, nur um mir sicher zu gehen, dass du kein Traum warst.«

Er strich mir über den Kopf, die Brauen hatte er zusammengezogen. »Das hast du getan? Oh Nevra, es tut mir so leid, so leid, dass ich es nicht noch mehr versucht habe. Ich hätte nicht schlafen sollen, bevor ich dich gefunden habe.«
Er sprach diese Worte aus, weil ich sie hören wollte. Ja, ich war gestört, definitiv gestört, aber hier und jetzt, heute war es mir egal. Denn er war genau vor mir und er sagte mir diese schönen Worte. »Es tut mir so leid.«

»Du wusstest, wo ich wohne, Duhan. Danke für deine Einladung, aber ich werde nicht erscheinen können.«
Er sah mich verwirrt an. »Welche Einladung?«
Wieso tatest du das, Unterbewusstsein? Wieso? Wäre es nicht einfacher, wenn Duhan es wüsste, als dass ich es aussprechen musste?
»Von der Verlobung, von der Einladung. Duhan und Nazan
»Nevra, wir haben noch gar keinen festen Termin.«
»Wie?«
»Es steht noch gar nichts richtig bevor. Wir haben kein Termin und schon gar keine Einladung.«

Der SehnsuchtsfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt