Kapitel 44
»Kannst du seinen Aufenthaltsort finden?«, fragte ich Bechir.
»Ich weiß es nicht. Natürlich kann ich es versuchen, aber ob ich Erfolg haben werde, ist eine andere Sache.«
Vielleicht hatte er mich gesucht, vielleicht hatte er mich sehen wollen. Vielleicht war wir näher als ich dachte. Aber selbst wenn wir Freunde wären, könnte ich es ertragen? Könnte ich ihn sehen, im Smoking, neben ihm seine schöne Braut, Nazan.
Nein, ich könnte nicht.»Da ist noch etwas«, flüsterte ich, als ich Edizs Blick begegnete. »Was ist los?«
»Sie geben mir Sude nicht. Sie meinen, es sei ein Wunder, dass ich auf mich selbst aufpassen kann. Ich brauche einen anderen Job, ich muss die Wohnung aufbessern.«
»Du wirst sie kriegen. Du darfst nur nicht aufgeben.«Nachdem Ediz wieder gegangen war, machte ich mich auf den Weg zum Waisenhaus. Ich unterhielt mich etwas mit Mirabelle. Langsam verlor alles an Wert. Sie überreichte mir eine Nummer. »Es ist verboten und ich weiß nicht, ob dir das etwas hilft, aber ich habe eine alte Nummer von Duhan. Ob sie gültig ist, weiß ich nicht. Ansonsten gibt es nichts, nichts über die kleine Kirsche.«
Keine Sorge, ich wusste genau, wo meine Kirsche war.Deshalb ging ich zu meinem Onkel. Ich klingelte zigfach, bis mir eine Bedienstete die Tür öffnete. »Nevra?«
Gut, ich musste mich nicht vorstellen.Ich lief an ihr vorbei und bewegte mich in Richtung Wohnzimmer.
»Warten Sie, Warten Sie, Frau Çolak, ich muss ihm erst Bescheid geben.«
»Wo ist er?«, fragte ich gereizt und suchte in den Räumen ab. Die Bedienstete versuchte mich aufzuhalten, stoppte dann aber ganz plötzlich. »Es tut mir leid, ich habe sie versucht aufzuhalten.«
»Kein Problem. Geh du raus«, sprach mein Onkel und die Bedienstete verließ den Raum. Wut, die sich in meiner Brust gestaut hatte, überflutete mich mit einen Mal. »Was bist du für ein Mensch, dass du deiner eigenen Nichte das Leben zur Hölle machst?«Er lachte. »Du hast also doch gemerkt, dass du auf mein Angebot zurückgreifen musst.«
»Angebot? Das ist eine Erpressung, mehr nicht!«
»Nevra, ich habe deinen Mut immer bewundert, aber diese Klappe. Das geht gar nicht«, sprach er abfällig. »Du hättest dir diese Gedanken machen sollen, bevor du es gewagt hast!«
Er schüttelte den Kopf. »Wie kannst du es noch wagen, so vor mir zu stehen?«Meine Augen wurden weit. In meiner Brust tobte ein Tornado, während in meinem Herzen klingen festgesetzt wurden. »Gib sie mir zurück und du bekommst alles, was du willst.«
Ich hatte immer versucht, Stärke zu zeigen, aber heute besaß ich nicht mehr die Kraft dazu. Ein Happy End? Ich wagte es nicht, danach zu träumen. Meine Sehnsucht stach wie Scherben in meine Haut. »Gib sie mir zurück.«»Ich habe sie noch nicht«, beachtete er meine Lage nicht. In seinen Augen lag seine Gleichgültigkeit. Sie waren kalt und schmerzfrei. »Aber keine Sorge, ich werde sie bekommen und wenn du nicht tust, was ich will. Dann wird die ganze Welt wissen, was du getan hast.«
Was? »Was ich getan habe?«, wiederhole ich fragend. »Kannst du mir offen sagen, wovon du sprichst?«
»Von der Aufnahme.«
»Von welcher Aufnahme?«
»Tu nicht so unwissend«, wollte er.»Du hast Kiraz nicht«, verstand ich.
»Kiraz?«
Wenn ich mein Hab und Gut gegeben hätte, hätte ich Kiraz zurückbekommen können.Ich drehte mich um und lief zur Eingangstür. Wo war sie bloß, wo war meine Kirsche?
»Nevra, wohin gehst du?«
»Du hast nichts, was ich brauche«, antwortete ich, als er sich vor mich stellte.
»Ich rede von der Kassette!«, schreit er mich am. »Vom Tag des Brandes! Es gibt noch eine Aufnahme!«
Ich stoppte, starrte ihn verblüfft an. »Wir können herausfinden, wer den Brand gelegt hat?«»Wir?«, lachte er wieder spöttisch auf. »Wir beide wissen genau, dass du es warst. Du allein.«
»Bitte was?«, fragte ich und meine Stimme wurde immer lauter. »Wovon redest du! Kannst du einmal etwas wissen und dann den Mund aufmachen! Nur einmal! Ich soll mein eigenes Haus in Brand gesetzt haben, mein eigenes Haus, in dem meine eigene Mutter ist! Das glaubst du doch wohl selbst nicht!«
»Du hattest sie satt! Sie war krank und du hattest sie satt!«Eine heiße Träne kullert meine Wange hinunter und sie reißt meine Haut mit sich. »Was? Wovon redest du Bastard! Sie ist meine Mutter! Meine Mutter!«
»Du hättest nicht erwartet, dass dein Vater in das Haus stürmt, du hättest nicht erwartet, dass er ein Herz besitzt.«
»Halt den Mund!«, ich presste die Hände fest gegen die Ohren. »Halt den Mund, ich will nichts hören!«Ich rannte aus dem Haus und flüchtete vor diesen Anschuldigungen. Ich wusste nicht wohin, ich gehörte nirgendwohin mehr. Keinen Platz hatte ich auf dieser Erde.
Und meine Kirsche war weg. In meinen Augen hatte sie einen Platz gehabt, einen Ort, sie war erreichbar gewesen, aber wo war sie nun?
Meine Brust bebte.
Wo war Ediz nun? Wo war meine Kirsche? Wo meine Eltern? Wo mein Vertrauen? Wo meine Träume? Wo meine angebliche Familie? Wo war Duhan jetzt?Ich tippte die Nummer von Duhan, die ich von Mirabelle bekommen hatte. Es klingelte lange, bis die Mailbox einsprang. »Ich bin gerade nicht zu erreichen, kannst mir ja eine Nachricht nach dem Signalton schicken.«
Das war sie. Seine Stimme.
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Der Sehnsuchtsfall
RomanceSie ist an einem Ort, an dem die Wunden heilen sollen. An einem Ort, wo sich abgebrochene Zweige versammeln und ein neues Gerüst bilden. Wo Trost gespendet und ein neues Leben angefangen wird. So heißt es, aber so war es nie. Das merkt Nevra selbst...