»Du bist also Nevra Çolak?«
Die Stimme der Frau klang schon abwertend. Sie sank so tief, doch konnte sie die Tiefe meiner jetzigen Stimmung nicht erreichen. Diese Leere in mir war nicht auszuhalten.
»Ja«, gab ich knapp von mir.
Die Frau sah mich von oben bis unten arrogant an. Ich war sowieso klein, gerade mal 1,60 Meter und durch ihre Blicke fühlte ich mich winzig.»Geh durch«, gab die Frau mir Bescheid und ich ging. Mein Herz schmerzte bei jedem Schritt. Noch immer kam mir alles wie ein Alptraum vor. Du schläfst, Nevra. Du schläfst, sagte ich zu mir. Immer und immer wieder, doch nicht einmal das änderte diese kalten Tatsachen. Mein Hals war trocken. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment in Tränen auszubrechen, auf der anderen Seite fühlte es sich aber so an, als ob ich nie mehr hätte weinen können.
Ich setzte mich auf einen Stuhl, der in der Versammlungshalle stand. Hier sollte ich bleiben, bis sie die letzten Formulare ausgefüllt hatten. Ich schloss kurz die Augen- es war bloß ein Wimpernschlag, doch hatte es die Macht, mich ungewollt wieder in diesen einen mich umbringenden Augenblick zu versetzen.
Am Abend war der Anruf gekommen, der mir den Tod meiner Familie erklärt hatte. Meiner ganzen Familie. Ich war bei meiner Freundin gewesen und wir hatten unendlich viel Spaß.
Bei dem Gedanken zog sich etwas in mir zusammen. Ich hatte gelacht, während sie litten, während sie brannten und qualvoll in den Tod gingen.Aus dem Fenster schien die Welt noch heile, es war ein klarer dunkelblauer Himmel. Ich blinzelte mehrere Male, damit ich nicht wieder weinte.
Mein Kopf pochte. Mir war übel. Zu viele Gefühle trafen aufeinander, dass ich es kaum noch aushalten könnte.
Das Geräusch von hohen Schuhen hallte auf dem Marmorboden. Ich wusste, es war Zeit, aufzustehen, doch alles in mir war dagegen. Vielleicht sollte ich einfach die ganze Zeit hier bleiben und mir einreden, das sei alles nicht die Realität. Das konnte ich sowieso gut.
»Steh auf!«, befahl die Frau in einem gebieterischen Ton. Ich sah immer noch zu Boden. Eigentlich wäre ich normalerweise aus Trotz nicht aufgestanden. Damals. Nun hatte ich niemanden hinter mir, niemand der zu mir stand. Ich war allein. Ich biss mir die Zähne zusammen, bis mein Kiefer schmerzte.
Langsam stand ich auf.
Ich wusste, die Tränen zu verdrängen, würde mir nicht guttun, doch ich tat es dennoch. Ich wollte diese bemitleidenden Gesichter nicht sehen. Meine Wunden waren noch so frisch, dass sie bei einer kleinsten Berührung weiter entreißen könnten und sie würden schreckliche Narben hinterlassen.
Ich biss mir auf die Lippen, weil mein Kiefer schon unheimlich schmerzte, bis ich den Geschmack von Blut wahrnahm. Vorsichtig nahm ich meine Zähne von den Lippen und richtete meinen Kopf hoch zu der Frau, die mich nicht bemitleidend ansah. Nur pure Arroganz und abwegige Gesten waren zu erkennen. »Raum 54«, sprach sie mit einer bitterkalten Stimme.
Egal wie sehr ich es versuchte, ich brachte kein Laut aus mir heraus und zu nicken, klappte einfach nicht. Stattdessen starrten die Frau und ich uns an. Sie war ungeduldig und tippte mit ihrer Fußspitze immer wieder zu Boden.
Ich riss mich zusammen. Als ich die Tür vor mir öffnete, hörte ich sie »Gemeinschaftsraum«, sagen.
Zum Umsehen hatte ich keine Kraft. Die Farbe rot prägte sich in meinen Augen, doch mehr erkannte ich nicht. Meine Gedanken waren weit wo anders.
Während ich mich fortbewegte, fiel eine Plastikvase hin, die ich nicht einmal berührt hatte.
»Es ist Ruhezeit«, gab die Frau mir bekannt genervt. »In dieser Zeit will ich kein Laut hören!«
Vom Gemeinschaftsraum aus gab es drei Fluren. Ich musste zum dritten und dann zur Tür mit der Kennzeichnung "54". Als ich sie fand, umschloss ich meine Hand die Türklinke. Sie war kalt und voller Kratzer. Gänsehaut bildete sich über meine Arme. Ich schloss die Augen und atmete noch einmal tief ein. Hinter mir spürte ich schon die Ungeduld der Frau.
Ich schloss die Tür auf und ging hinein.
»Willkommen im Waisenhaus La Belle. Wir hoffen doch, dass du einen angenehmen Aufenthalt hast.«
Das war das letzte, was die Frau gesagt hatte, bevor sie ging und ich mich in meinem neuen Zimmer vorfand. Wie ein Gefängnis.
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Der Sehnsuchtsfall
RomanceSie ist an einem Ort, an dem die Wunden heilen sollen. An einem Ort, wo sich abgebrochene Zweige versammeln und ein neues Gerüst bilden. Wo Trost gespendet und ein neues Leben angefangen wird. So heißt es, aber so war es nie. Das merkt Nevra selbst...