Kapitel 41

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Kapitel 41

Mahsun kam auf mich zu und nahm mir meinen Koffer ab. Zum ersten Mal seit langem fühlte ich mich wieder frei...
frei und stark.
Ich sah zu, wie Mahsun meinen Koffer in den Kofferraum des Wagens schob. Mein Blick glitt zum Fahrer. Bechir!
Ich musste Lächeln. Es war wirklich wie früher! Mit eiligen Schritten rannte ich in den Wagen. Ich saß hinten mit Mahsun. Bechir grinste mich von vorne an. »Wie fühlt es sich an, 18 geworden zu sein?«
»Es kommt mir gar nicht so vor«, antwortete ich. »Aber ich bin furchtbar müde.«
Es war kurz vor eins. »Außerdem bin ich ja erst in einigen Stunden geboren.«
»Um sieben Uhr achtundfünfzig«, gab Mahsun die korrekte Uhrzeit. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter und murmelte ganz leise: »Genau.«

»Wir fahren erst zu mir«, gab Mahsun mir Bescheid. »Und am Morgen können wir dann über alles Nötige sprechen.«
»Mhm ja«, erwiderte ich. Ich war beinahe am Schlafen. Wir fuhren in einem angenehmen Tempo, ich war so erschöpft, dass ich einfach einschlief.

Am nächsten Tag wachte ich in einem wunderschönen Zimmer auf. Ich streckte mich, während ich merkte, dass ich bei Mahsun im Gästezimmer war. Ob seine Eltern zu Hause waren? Ich mochte seine Eltern sehr. Sie waren wie Onkel und Tante gewesen für mich gewesen... vielleicht sogar besser.

An der Tür hing ein Kleid. "Für die Neuerwachsene", stand drauf. Ich kicherte und zog es an. Das Freizeitkleid ging mir über die Knie, war dunkelblau und hatte eine Schleife hinten. Süß.

Es passte perfekt. Ich sah mich um. Hier hatte ich früher auch oft übernachtet, wenn meine Eltern kurzfristig weg waren und ich keine Lust auf das Alleinsein hatte. Die Bedienstete hatte ich nie zu meinen "Freunden" gezählt.
Ich öffnete den Schrank in der Mitte und ja! Ich hatte meine alte Tasche hier drin. Mir fiel auf, dass ich sie mal gesucht hatte. Schminke, Kamm, Haargummies, Bänder, da war so viel.
Wie sehr hatte ich das vermisst? Die Schminkartikel waren alle nicht mehr gut, deshalb schminkte ich mich nichz, frisierte dafür mein Haar und grinste mein Spiegelbild an. Ich war heute achtzehn geworden! Das musste ich feiern!

Ich tapste kurz darauf den Flur entlang und suchte nach Mahsun.
»Fräulein Nevra, sie sind ja wach!«, rief eine Bedinstete. »Herr Mahsun ist gerade gegangen.«
»Kein Problem«, meinte ich. »Ich will etwas frische Luft schnappen.«
»Bleiben sie doch noch etwas hier«, bat sie mich verzweifelt.
»O-okay«, meinte ich nur und saß etwas in meinem Zimmer.

Nachdem ich eine Weile gewartet hatte, hielt ich es nicht mehr aus und lief in den großen Saal.
»Überraschung!«, wurde da von Vielen gerufen. Die Bedienstete hatten sich zu Mahsun, Bechir, einigen meiner alten Schulfreunde, die mich nicht besuchen gekommen waren gestellt. Ich grinste vor mich hin. Diese Überraschung hatte mich so glücklich gestimmt. Wir feierten eine Weile. Es war nur klein. Früher wollte ich immer das ganze Haus voll haben, aber heute wusste ich, wie bedeutungslos das war. Es hätte sogar gereicht, wenn nur Bechir und Mahsun da gewesen wären.
Viele fragten mich nach Alkohol. Ich trank kein Alkohol und wollte auch nicht, dass es hier getrunken wurde. Es war mein zweites zu Hause und Mahsuns Eltern waren da streng mit. Mahsun selbst hatte ich nie trinken sehen. Gut so.

Auch diesen Tag hatte ich bei Mahsun verbracht. Das Gästezimmer hatte ich sowieso vermisst

Das mit dem Erbe klärten wir am nächsten Tag. Bechir übernahm eigentlich alles. Ich saß nur wie eine Dekoration neben ihm. Von unserem alten Haus war nicht viel übrig. Ich wollte es aber unbedingt noch einmal sehen und gucken, ob es noch etwa Brauchbares gab.

Das wollte ich dann gemeinsam mit Mahsun tun. In meiner freien Zeit war ich oft im Friedhof. Ich hatte endlich die Zeit und die Gelegenheit bei meinen Eltern zu bleiben. Ich verschönerte und säuberte ihre Grabsteine. Ich pflanzte und legte Blumen dazu. Meine Gebete und Bitten ließ ich nicht aus. Vom ganzen Herzen wünschte ich ihnen das Paradies. Das endlose Paradies.

»Was gibt es heute zu Essen?«, fragte ich Laetitia als es schon spät wurde. Sie war die Köchin in diesem Haus. »Was möchtest du denn essen?«
Ich war allein im Haus. Mahsun und Bechir mussten sich um meine Schulausbildung kümmern. Ich hatte darauf bestanden, auf keine Privatschule zu gehen. Dazu hatten mich die beiden nämlich überreden wollen.
»Ich möchte Kirschen essen«, kam es spontan aus meinem Mund. Sofort klappte mein Mund auf.
»Fräulen Nevra?«, fragte Laetitia.
Ich schloss sofort wieder meinen Mund und tat auf gleichgültig, aber etwas fing an, in mir zu lodern, als ich an meine Kirsche dachte. Ich musste sie so schnell wie möglich herholen.
»Tut mir leid, aber es gibt keine Kirschen mehr.«
»Oh«, ich machte ein trauriges Gesicht,
»Darf ich welches holen gehen?«
»Haben sie Geld bei sich?«
Ich nickte. Bechir hatte mir welches gegeben, damit ich immer welches dabei hatte. Er wusste, dass ich nicht zu Hause bleiben wollen würde.
»Dann kann ich sie nicht aufhalten. Frische Luft tut außerdem gut!«

Ich schlenderte herum. Was würde nun passieren? Langsam fing es an, zu nieseln. Der Herbst hatte seine Blätter alle gefärbt und die Kraft ihnen entzogen. Vielleicht war ich ja auch ein Blatt von vielen. Ein Blatt, von dem die Kraft entzogen wurde. Ja, das könnte passen.

Ich lief in eins der Supermärkte und sah mich nach Kirschen um. Mir war kalt geworden, denn ich hatte keine Jacke an. Ich hatte es nicht für nötig gehalten, da es gestern nicht so kalt war. Vielleicht brach ja heute ein Sturm an. Der Regen wurde immer dichter und hier im Supermarkt war es angenehmer als Draußen, deshalb ließ ich mir Zeit beim Aussuchen, welches Glas Kirschen ich holen sollte. Als mir dann aber einfiel, dass ich ja kein Handy dabei hatte und Bechir und Mahsun sich Sorgen machen würden, nahm ich einfach eins und stellte mich an die Kasse. Mein Blick hing auf dem Boden.

Die Schlange war lang und normalerweise fände ich, dass es sich für die paar Kirschen nicht lohnen würde, aber heute hatte Raum und Zeit keinen Sinn.

Ich fröstelte, als die mechanische Tür aufglitt, weil der Kunde vor mir seinen Einkauf getätigt und gegangen war. Als ich dann hochsah, fror ich vollkommen ein. Nein! Nein! Mein Herz setzte aus, als ich wieder diese Augen sah. Dieses Braun! Doch kein bisschen Ruhe war mehr darin aufzufinden.

Der SehnsuchtsfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt