Kapitel 49

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Kapitel 49

Kirazs Vater wollte mich kennenlernen. Er schien ein sehr sympathischer Mann zu sein. Zumindest hatte ich das aus dem kurzen Telefonat und Kirazs Erzählungen erkennen können.

Nachdem ich in den Bus eingestiegen war, rief mich Bechir an. »Nevra, ist bei dir alles okay?«
Allein dieser Einstieg verursache ein schlechtes Gefühl in mir. In mir keimten immer wieder schlechte Vorausahnungen. Ich konnte das Gefühl einfach nicht loswerden, dass immer alles schlimm werden muss, wenn es kurz gut war. »Ja, wieso soll es nicht? Ist etwas passiert?«
»Heute Zeitung gelesen?«
»Bessere Frage wäre: je Zeitung gelesen?«, versuchte ich ihn zum Lachen zu bringen, weil er so ernst war. Erfolgt hatte ich nicht.

»Also nein?«, wollte er wissen.
  »Ja, ich hab nichts gelesen, ist etwas los?«
  Ich wurde langsam hibbelig. Gerade musste ich aussteigen und mich in den nächsten Bus setzen.
»Es geht um deinen Onkel.«
»Dann will ich es nicht wissen.«
»Glaub mir, du willst.«
Seine Stimme klang sehr- sehr nervös. Das war nicht so üblich.
»Was ist los?«
»Dein Onkel hat die Firma aufgeben müssen. Er ist pleite.«
Er schwieg eine Weile, was mich fast umbrachte.

»Und was interessiert mich das!«, rief ich deshalb gernevt.
»Da deine Eltern vor kurzem gestorben sind, sind die Reporter sehr neugierig, was deine Ansicht ist. Sie werden dich nicht in Ruhe lassen.«
Mein Herz setzte aus. Nein.
Nein! Nein! Nein!
Das konnte doch nicht wahr sein!

Ich schlug gegen den freien Sitz neben mir und spürte Blicke von Fremden. »Du machst Witze, oder?«, fragte ich mit einer piepsigen Stimme. Ich würde jetzt auch noch keine Privatsphäre mehr bekommen? Ein Skandal nach dem anderen. Reporter konnten aus einem einzigen Hallo zehntausend Skandale heraushören. Damit kannte ich mich bestens aus.
»Ich wünsche, Nevra.«
»Und du hast welchen Plan?«
»Pack Sachen für dich und Kiraz. Ich komme euch gleich abholen.«

»Packen? Dein Ernst?«, rief ich fast. Die Passagiere sahen mich entsetzt an.
»Mach einfach.«
  »Ich fahre sowieso zu Kiraz, aber ich bin mir nicht sicher, ob ihr Vater das auch will.«
  »Er wird wollen«, war sich Bechir sicher. »Wenn jemand wieder interessant wird, ist sein Leben im Waisenhaus auch plötzlich wieder interessant. Dein Onkel hat das Licht auf dich geworfen, um selbst davonzukommen. Er hat über dein Leben dort geredet, über das, was er zu wissen glaubt.«

Ich stieg aus und machte mich auf den sofortigen Weg zu Kiraz. Ihrem Vater gefiel das Ganze selbstverständlich überhaupt nicht.
  »Meine Tochter geht nirgendwohin!«, rief er, als wäre sie seine Tochter seit Ewigkeiten.
  Er musste aber zugeben, dass es besser war, wenn sie mit mir ging, anstatt Reporter am Hals zu haben und so packten wir wahllos Klamotten in ihren Koffer, bis Bechir kam.

Am Briefkasten hing Zeitung, welche in der Mitte geknickt war. Ich wollte sie zuerst nicht anfassen, aber die Versuchung war zu groß.

»Wohin gehen wir überhaupt?«, fragte Kiraz, als wie aus dem Haus liefen.
»Keine Ahnung. Frag Bechir.«
»Du traust ihm ja wirklich blind.«
»Wieso nicht?«

Ich nahm die Zeitung an mich und musste sie sofort umblättern. Tatsächlich. Ein Foto von der Firma war aufgedruckt und der fett gedruckte Titel "Firma der Çolaks geht unter." Und der Untertitel "Noch ein tragischer Vorfall für die Çolak-Familie", war für mich schon die beste Bestätigung.

»Nevra, lass das doch«, sagte Kiraz behutsam und nahm mir die Zeitung ab. Sie hatte ja recht. Dann setzten wir uns zu Bechir, der und weiter zu Ediz fuhr.

Als ich klein war, wollte ich immer vorne im Wagen sitzen. Ich hatte mir immer vorgestellt, wie schön das sein musste. Andere Probleme gab es nie. Das einzige Ziel war es, älter zu werden. Man träumte nur davon, es zu genießen. Wieso tat ich das also nicht?

Der SehnsuchtsfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt