2. Kapitel

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Ares

Ich kann es nicht fassen, dass Guin tatsächlich  neben mir sitzt, in meinem Auto.
Wir haben uns seit dem Vorfall nicht mehr gesehen oder miteinander gesprochen.
Und doch hat sie sich nicht verändert.
Zumindest äußerlich nicht.

Sie trägt immer noch ihr kurzes, braunes Haar, das ihr elegant bis zum Kinn fällt.
Und ihr Sinn für Mode ist genauso schick, wie ich es in Erinnerung habe.
Ja, sie hat etwas zugenommen und trägt jetzt mehr Kurven. Aber es steht ihr so gut und macht sie noch schöner und lebendiger.
Ich frage mich unwillkürlich, wie es sich anfühlen würde, sie zu berühr...
Verdammt! Nein, nein und nochmal nein.
Ich darf diese Gedanken nicht in meinem Kopf Raum nehmen lassen.
Ich werde sie einfach nach Hause fahren.
Das ist alles, nichts weiter.
Ich werde mich nicht in unsere Anziehungskraft verstricken lassen.
Oder vielleicht doch, während ich bemerke, wie sich in meiner Hose etwas bemerkbar macht.
Okay, ich bin geliefert...

Um die Stille im Auto zu durchbrechen und um mich etwas abzulenken, fasse ich den Mut und frage sie: "Was hast du überhaupt dort draußen gemacht?"

Während sie antwortet, dreht sie ihren Kopf nicht zu mir und sagt mit kaum hörbarer Stimme: "Das Gleiche könnte ich dich auch fragen."
"Touché", murmele ich und erkenne, dass ich durch Nichtbeantwortung ihrer Frage auch keine Antwort von ihr auf meine erhalten werde.
Es erinnert an unsere Beziehung vor dem Ende, voll unausgesprochener Worte und ungelöster Emotionen.

Fünf Minuten später ertönt ihr Handy.
Ich schaffe es, einen kurzen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen.
Der Name "Alec" blitzt darauf auf.
Alec ist neben Asa mein bester Freund und ihr Adoptivbruder. Deshalb verwirrt es mich, dass sie nicht rangeht.
"Warum gehst du nicht ans Telefon? Das ist doch Alec?" frage ich, meine Stimme durchzogen von Neugierde und Besorgnis.

Sie seufzt gequält und schluckt schwer, bevor sie ihren Kopf zu mir dreht. "Ich kann es im Moment einfach nicht über mich bringen, mit ihm zu reden", antwortet sie, ihre Stimme zitternd.

"Aber ihr wart doch so eng miteinander und habt sonst auch immer miteinander geredet, oder etwa nicht?" bohre ich nach, spürend, dass etwas nicht stimmt.

Ich sehe wie sie tief einatmet.
Ihre Schultern versteifen sich, als würde sie sich auf das vorbereiten, was sie gleich offenbaren wird. "Du hast es selbst gesagt, wir waren es, aber nicht mehr."

Ihre Antwort überrascht mich, weshalb ich schnell meinen Kopf vollständig zu ihr wende und meine Augen sich vor Sorge weiten.
Es muss etwas krasses passiert sein, wenn sie die Anrufe von Alec ablehnt.
Sie sind normalerweise unzertrennlich, immer füreinander da.
Sie würde ihn niemals ignorieren, nicht einmal, als wir intim zusammen waren, tat sie es.

In diesem Moment bemerke ich die Traurigkeit in ihren Augen, den Schimmer von Schmerz, der in ihrer Tiefe verborgen ist.
Doch es ist nicht nur der Anruf, der für ihr Leid verantwortlich ist, das ist sicher. Denn ihre Augen sind gerötet, ihre Lippen leicht geschwollen.
Sie muss geweint haben, bevor ich gekommen bin.
"Hast du geweint, bevor ich dich gefunden habe, selbst nachdem du gesagt hast, dass es dir gut geht?" frage ich, ein Gefühl von Dringlichkeit, Wut aber auch Besorgnis strömt durch meine Adern.

Sie wirkt überrascht, ihre Augen schweifen weg, während sie antwortet: "Nein... habe ich nicht."
Aber ich kann ihre Fassade durchschauen; ihre Lüge ist so durchsichtig wie Glas.
Ich werde nicht zulassen, dass sie mich täuscht.
"Ich weiß, dass du lügst. Also sag mir die Wahrheit", fordere ich.

Sie schaut mir in die Augen, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern, erfüllt von unverkennbarem Schmerz. "Bitte... tu das nicht. Frag mich nicht solche Fragen. Fragen, auf die ich nicht antworten will. Und bitte tu nicht so, als würdest du dich jetzt um mich kümmern."

"Ich..." Mein Kiefer verkrampft sich, während ich versuche, die richtigen Worte zu finden. "In Ordnung", schaffe ich schließlich zu sagen.

Es ist quälend, sie so zu sehen, sie auch jetzt noch leiden zu sehen.
Und ihre Kälte schneidet mir bis ins Mark.
Sie war nie so, nie so distanziert und losgelöst. Früher strahlte sie Wärme und Freude aus, wie reines Sonnenlicht.
Aber ich weiß, dass ich schuld daran bin, was aus ihr geworden ist.
Ich kann sie nicht verantwortlich machen.
Es ist alles meine Schuld, und ich trage diese schwere Last mit mir.

Sie wendet ihren Blick wieder ab, starrt schweigend aus dem Fenster.
Keiner von uns spricht.
Ich versuche, mich auf die Straße zu konzentrieren, aber mein Blick schweift unwillkürlich zu ihr zurück.

Innerlich sehne ich mich danach, meine Arme um sie zu legen, ihr den Trost einer langen überfälligen Umarmung zu bieten.
Diese Umarmungen, die sagen: "Ich bin für dich da, egal was passiert."
Aber ich kann es nicht.
Wenn wir uns je wieder näher kommen würden, wäre es nur für die Befriedigung meiner Gelüste, nichts weiter.
Und ich weiß, dass sie das noch weiter zerstören würde.
Deshalb muss ich versuchen, Abstand zu wahren, mich fernzuhalten. Denn ich kann ihr nichts anderes geben.
Keine Zukunft, keine Versprechen, nichts.
Ich kann sie einfach nicht mehr so lieben wie früher, egal wie sehr ich es mir selbst wünschte.

Zwanzig Minuten später halten wir vor einem heruntergekommenen Motel.
Das flackernde Schild erhellt kaum die verfallene Fassade.
Meint sie das gerade ernst?
Lebt sie hier?
Ich kann es nicht glauben.
Sie hatte früher alles im Haus von Alec.
Das war einer der Gründe, warum ich das getan habe, was ich getan habe, in dem Wissen, dass sie sicher sein würde und eine vielversprechende Zukunft hat.
Aber das... das ist weit davon entfernt.
Es frustriert mich, sie und ihr Leben auf diese Weise zu sehen.
Und die Tatsache, dass sie gelogen hat und behauptet hat, es sei nicht weit entfernt, heizt meinen Ärger nur noch mehr an.
Das ist alles absoluter Mist.
Ich atme tief ein und berühre sanft ihren Arm. "Du machst wohl Witze, oder? Das hier kann unmöglich dein Zuhause sein, dieses schäbige Motel, das direkt vor uns ist."
Sie lächelt schwach und zuckt mit den Schultern. "Nicht kann sich einen Rolls-Royce leisten."
Ich lache bitter auf. "Du weißt, dass das nicht einmal vergleichbar ist. Was ist passiert, Guin? Du hast bei Alecs Familie gewohnt, und soweit ich weiß, hattest du sogar auch mal ein schönes Auto."
"Das Leben ist passiert", sagt sie, ihre Stimme erfüllt von schwerer Last.

Ohne ein weiteres Wort öffnet sie die Tür auf ihrer Seite, nimmt ihre Sachen und steigt aus.
Sie wirft noch nicht einmal einen Blick zurück und lässt mich dort einfach stehen.
Ich bleibe sprachlos zurück und kann nur zusehen, wie sie davonläuft.
In diesem Moment kann ich nichts tun.
Ich kann sie auf keinen Fall mit nach Hause nehmen; das wäre falsch.
Aber ich werde versuchen, Alec zu kontaktieren.
Und dieser Mistkerl sollte besser Antworten haben. Ich muss wissen, warum zur Hölle seine Schwester an einem so abgelegenen Ort lebt und alleine auf einem Parkplatz weint.
Ich verlange Antworten und werde nicht ruhen, bis ich sie finde.

I crave you - Ares & Guinevere Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt