Eins

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"Spiel es nochmal!" hörte ich meine kindliche Stimme und das darauffolgende Lachen. Es hallte von den Wänden des Musikzimmers meiner Mutter wider, die direkt neben mir am Klavier saß. Mit einem liebevollen Ausdruck in den Augen sah sie mich an, legte dann ihre zarten Finger auf die Tasten und spielte erneut das Lied, um welches ich sie bat.
'Für Elise' erklang und gebannt betrachtete ich sie, während sie spielte. Es gehörte zu meinen liebsten Melodien und immer wann Mutter Zeit fand, spielte sie es. Ich war glücklich, sorglos. Ein naives Kind...

Der Klang der Melodie gepaart mit der Anwesenheit meiner Mutter ließ mich erstarren. Ich blickte auf die Leinwand vor mir, hielt das Glas mit teurem Scotch nur mit den Fingerspitzen fest. Das was ich vor mir sah war eines der letzten übriggeblieben Videos, das ich vor der Zerstörungswut meines Vaters retten konnte. Die Melodie die mir einst so viel bedeutete verlor an Glanz und Bedeutung, nachdem sie gegangen war, trotzdem behielt ich diese Erinnerung wie ein Schatz in meinen Gedanken.

Ich ertrug es nicht länger und schaltete den Beamer aus. Eine Weile danach saß ich reglos da, ließ meine Gedanken schweifen, bis diese so düster waren, das ich es kaum noch aushielt. Das Glas in meiner Hand flog gegen die Wand, der Inhalt verteilte sich überall. Dann stand ich auf.

Mit ein paar letzten Handgriffen an meinem Sakko lief ich zielstrebig auf das Büro meines Vaters zu. Ich liebte dieses Haus - früher. Nun glich es einem Mausoleum. Vater hatte nichts verändert, alles war noch genauso wie Mutter es zurück gelassen hatte. Ihr Schal, den ich ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, hing noch immer über dem kleinen Sessel im Salon, der sich kurz vor Vaters Büro befand. Er hing dort seit einem Jahr, weil weder er noch ich die Kraft hatten ihn zu entfernen. Vaters Angestellte machten einen Bogen um Mutters Sachen, weil sie wussten das ihnen bei der bloßen Berührung die Finger fehlen würden - das hatte Vater klar gemacht. Noch immer war alles extrem sensibel, bis auf den Mann der hinter dem Schreibtisch saß und sich nicht die Mühe machte, mich anzusehen als ich eintrat.

"Da bist du ja endlich. Ich dachte schon du würdest kneifen."

Vater schoss seit Mutters Tod mit Feindseligkeit nur so um sich. Er hatte jegliches Gefühl und Gespür für Menschen - insbesondere für mich - verloren. Unbeeindruckt trotz seiner Beleidigung, ließ ich mich direkt in den Club Sessel vor seinem Schreibtisch sinken.

"Ich bin da. Also kann es los gehen."

Der Tod meiner Mutter hatte keinen natürlichen Ursprung und es gab einen Schuldigen, der dafür bluten musste. Diese eine Person, die auf einen Moment der Unachtsamkeit gewartet und meine Mutter am hellichten Tag von der Straße gerissen und entführt hatte, hatte ihr unsägliches Leid zugefügt. Man fand ihre Leiche eine Woche nach ihrem verschwinden - sie wurde misshandelt, vergewaltigt und zu Tode gequält. Das einst so hübsche Gesicht mit dem ehrlichsten Lächeln das ich je gesehen hatte war vollkommen entstellt - ihre Wangenknochen zertrümmert.

Ich erinnerte mich immer wieder daran, wie wir sie fanden. Wie etwas in mir starb und ich unfähig war zu schreien oder gar zu weinen. Ganz anders als Vater, der neben mir zusammenbrach und schrie, wie ich es noch nie zuvor gehört hatte. Er hatte seine Frau verloren, die Liebe seines Lebens. Und mit ihrem Tod verschwand jeder gute Teil von ihm unwiderruflich.

"Alessandro war vorsichtig, doch nun hat er einen Fehler gemacht." murmelte Vater und fischte nach einer Zigarre. Er hatte den Mörder meiner Mutter schnell ausfindig gemacht, doch Alessandro war clever und hielt sich bedeckt. Es dauerte bis heute, eine reele Chance zu haben, ihn zu ergreifen. "Du übernimmst heute Abend den Besuch im Cortez. Tu was nötig ist."
Ihm zu widersprechen hatte keinen Sinn, wollte ich doch genauso wie er den Tod einer unschuldigen Frau rächen. Sie hatte mit allem was wir taten nichts zutun gehabt und doch war sie es, die am Ende dafür sterben musste. Es durfte nicht ungestraft bleiben. "Verstanden." sagte ich klar und deutlich und erhob mich.

BLOODLINE : CameronWo Geschichten leben. Entdecke jetzt