Ich hatte kein gutes Gefühl.
Mit Vollgas raste ich nach Hause, sprang aus dem Wagen und hob die Waffe, die ich immer im Auto zur Sicherheit hatte. Ich marschierte, weil ich eine Mission hatte.
"Matheo!" brüllte ich wie von Sinnen. Er hatte den Bogen längst überspannt und all meine Gedanken drehten sich einzig und alleine darum, ihn zu töten - ich konnte nur beten das Ophelia und Anya in Ordnung waren.
Ich kam ins Haus, die Tür stand weit offen. Kein Geräusch, kein Blut auf dem Boden... Es war erst nichts zu sehen. Ich ging weiter, bis zur Küche. Abrupt blieb ich stehen. "Komm doch rein. Dein Gebrüll war kaum zu überhören."
Mein Vater saß seelenruhig am Tisch, die Waffe lag vor ihm. Eine Hand umschloss sie, der Lauf zeigte direkt auf Ophelia, die vor ihm saß. Anya stand etwas abseits, aber nah genug an der Telefonstation. "Ich hab ihr gesagt sie soll dich rufen." sagte Vater, als hätte er meine Gedanken gelesen. "Deine Männer sind alle... Sagen wir... Beschäftigt. Es war leicht sie weg zu locken."
"Was willst du?"
Vater sah mich an. Etwas wildes lag in seinem Blick, das mir Angst einjagte - aber äußerlich blieb ich neutral. Ich wollte ihm nicht mehr Angriffsfläche bieten als er ohnehin schon hatte. Ein kurzer Blick auf Ophelia zeigte, daß sie die selbe Taktik zu verfolgen schien. Sie zeigte keine Angst nach außen aber ich wusste was sie dachte.
"Ich werde es beenden." sagte Vater schließlich. Das brachte mich dazu den Kopf ungläubig zu schütteln. "Es IST vorbei. Alessandro ist tot." konterte ich. Sofort umschloss er die Waffe fester und es war nur eine Frage der Zeit bis die Situation vollends eskalieren würde.
Also blieb mir nur eines... Ich zielte auf seinen Kopf.
"Du zielst auf mich? Auf deinen eigenen Vater? Das einzige was von deiner Familie noch übrig ist?"
Meine Atmung ging schneller, ich war fokussiert. Eine falsche Bewegung und es war vorbei, das wusste auch er... Schließlich hatte er mir alles beigebracht und ich hatte mich als zielsicherer Schütze erwiesen. "Anya." sagte ich ohne den Blick von Vater abzuwenden. "Geh und nimm Ophelia mit."
Letztere schüttelte vorsichtig den Kopf, doch Vater tobte bereits. "NEIN! Sie wird keinen Schritt machen ohne das ich es ihr sage!" schrie er wie von Sinnen. Er war dem Abgrund des Wahnsinns immer näher gekommen ohne es selbst zu merken. In all seiner Trauer um den Verlust von Mutter hatte er seine Menschlichkeit, besonders sein Gewissen verloren. Wut ließ die Tränen in seinen Augen aufsteigen.
"Na schön..." murmelte ich und ließ die Waffe sinken. "Wenn du sie umbringen willst, musst du mich zuerst erschießen."
Er zögerte, stand aber langsam auf. Ophelia sah mich mit großen Augen an. "Wieso?" fragte Vater. Wir hielten Blickkontakt und er war wachsam als ich mich dem Tisch näherte. Mit einem leisen Geräusch legte ich meine Waffe darauf ab. "Weil sie das Licht in meiner Dunkelheit ist. Ohne sie auf dieser Welt will ich nicht mehr sein. Also los, tu was du tun musst." antwortete ich knapp. Anya jappste vor Tränen, Ophelia weinte mit. Diese beiden Frauen hatten einen hohen Stellenwert bei mir und einen noch größeren Anteil daran, das ich heute der war, der hier stand.
Vater zögerte noch immer. Der Griff um seine Waffe war längst nicht mehr so fest wie zuvor. Ich konnte den Kampf in seinen Augen erkennen. Sein Adamsapfel wippte ein paar mal aufgeregt auf und ab.
So standen wir da, Vater und Sohn. Feinde und Familie. Rivalen und Verbündete.
•
Die Zeit verlief langsamer während wir uns gegenüber standen. Mit jeder Sekunde in der nichts geschah, in der er einfach nur da stand mit der Waffe in der Hand erkannte ich mehr und mehr den Mann, zu dem ich einst aufgeschaut hatte. "Das..." murmelte er und schluckte die Tränen fort, "... Das habe ich auch einst über deine Mutter gesagt. Ich hatte nichts und doch hatte ich sie. Die Liebe meines Lebens. Sie hat mich zu einem guten Menschen gemacht, meine Dunkelheit mit Licht erfüllt."
"Ich weiß..."
"Sie hat mich mit jeder Faser ihres seins geliebt. Mich akzeptiert wie ich war, auch wenn ich nicht perfekt war. Ich habe ihr die Welt zu Füßen gelegt, genauso wie dir. Und dann... Dann ist sie... Sie ist..."
Er brach ab, es überwältigte ihn. Seine Waffe sank immer weiter und die Tränen liefen unaufhaltsam seine Wangen herab. Es war das erste mal das er dagegen machtlos war, sich schwach zeigte. In diesem Moment empfand ich nichts als Mitleid mit diesem Irren, der weitaus mehr verloren hatte als seine Frau. Er verlor seine Seele, sein Herz, das Gegenstück all dessen, was er nie sein konnte. Und er verlor sich selbst.
Im Augenwinkel sah ich wie Ophelia langsam aufstand. Sie war ihm näher als ich und tausend Gedanken schossen durch meinen Kopf, was wohl als nächstes geschehen würde. Zu meiner Überraschung jedoch legte sie vorsichtig ihre Arme um meinen Vater, versteckte ihr Gesicht auf seiner Schulter. Diese Geste - im Angesicht dessen was er getan hatte, wofür er eigentlich her gekommen war - ließ ihm die Waffe vollends aus der Hand gleiten.
Sie weinten gemeinsam, verbunden im Schmerz. Auch wenn Ophelia meine Mutter nie kennen lernen konnte empfand sie den selben Schmerz wie mein Vater und letztlich ich. Sie stützte und tröstete mich, mehr als ihr bewusst war. Und jetzt tat sie das auch für meinen Vater.
Wie in einem Film zogen die letzten Wochen und Monate an mir vorüber. Ich sah das gute, das schlechte. Wog ab, überlegte. Ihn zu töten würde den Kern meiner Familie für immer dezimieren, gleichzeitig konnte ich die wilde, bösartige Seite an ihm aber nicht ignorieren. Sie war da, hatte sich öfter und vielfältiger gezeigt als das gute. Ich suchte nach Antworten, nach einer Lösung was jetzt zutun war. Als ich hierher gekommen war hatte ich nur eines im Sinn - ihn schnellstmöglich auszuschalten, alles hinter mir zu lassen. Aber jetzt... Mein Blick glitt zu Anya. Sie hatte die ganze Zeit stumm da gestanden, alles mit angesehen und angehört. Sie wusste besser als jeder andere welchem Kampf ich mich ausgesetzt sah. Trotzdem nickte sie und ich wusste in diesem Moment was ich tun musste. Es war das einzig richtige.
Ich ging näher auf meinen Vater zu, der noch immer weinte und von Ophelia gestützt wurde. Sein Kopf hob sich und er sah mich an, wie der gebrochene Mann der er war. Alle Gefühle die er sorgfältig unter Verschluss gehalten hatte, die er verdrängt und vor der Außenwelt versteckt hatte kamen zum Vorschein.
Als ich meine Arme um ihn legte war es erst als würde ich eine undurchdringliche Mauer berühren, doch Vater erwiderte die Umarmung. Ophelia zog sich langsam etwas zurück, um uns Freiraum zu geben.
Auch wenn wir mehr als das brauchten.
"Es tut mir leid." klagte er und verstärkte den Druck seiner Arme um mich. Alles was er sorgsam zurück gehalten hatte brach nun über ihm herein. Ich spürte wie er zusammenbrach, hielt ihn aufrecht. "Es tut mir so, so leid."
Das war das tragischste was ich erlebt hatte - vom Tod meiner Mutter einmal abgesehen. Und es gab nichts was ich sagen konnte, was all dem hier gerecht werden konnte. Aber ich hatte das Gefühl etwas sagen zu müssen, etwas das ich auch wirklich aus vollster Überzeugung so meinte. Und dann traf es mich wie ein Schlag. "Ich verzeihe dir." flüsterte ich.
Denn das tat ich. Und es war nötig, daß er das wusste.
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BLOODLINE : Cameron
Romance⚠️ Teil 1 der Bloodline Reihe ⚠️ Ich will Rache... Aber bin ich bereit jeden Preis dafür zu zahlen? Was, wenn nicht? AUFTAKT ZUR BLOODLINE REIHE Cameron DaSilva führt ein freies Leben. Als einzigster Sohn von Matheo DaSilva gehört er zu den Erben d...