kapitel 22

226 28 15
                                    

Bilals POV

Ich starrte auf den Bildschirm meines Laptops. Das grelle Licht blendete mich, aber ich konnte meine Augen nicht losreißen. 5,0. Das Zeugnis meines Scheiterns war in ein tiefes Rot getaucht und brannte sich in mein Gehirn. Seit Beginn meines Studiums war ich nicht ein einziges Mal durch eine Prüfung gefallen. Nicht ein einziges Mal. Und ausgerechnet jetzt, so kurz vor dem Ende, an einem Zeitpunkt, der nicht ungelegener sein könnte, hatte ich es geschafft, die Kontrolle über mich zu verlieren. Aggressiv klappte ich den Laptop zu und nahm mein Handy, um das Boxtraining abzusagen. Ab jetzt war Sport für mich untersagt. Ich musste mich selbst disziplinieren, bis ich eine zufriedenstellende Leistung in der Uni erbrachte. Nach dem Islam und meiner Familie war mein akademischer Werdegang meine oberste Priorität. Weitere Zeitverschwendung, während meine Mutter sich den Rücken kaputt arbeitete und Rima gebrauchte Kleidung trug, war das Letzte, was es brauchte. Voller Wucht warf ich mein Handy auf meine Matratze und starrte die dunkle Wand gegenüber von mir an. Es war erst Nachmittag, und die Sonne stand hoch im Himmel. Aber ganz egal wie hell es draußen war, ein fensterloses Zimmer würde immer düster bleiben.

Mit meinen Mitschriften und dem vergilbten Tabellenbuch bewaffnet, begab ich mich in die Küche, um mir ein gesamtes Semester Hydromechanik von vorne beizubringen. Die Nachschreibeklausur wäre in etwas mehr als einem Monat und bis dahin musste ich alle Prozesse, alle Formeln und alle Rechenwege im Schlaf rückwärts aufsagen können. Ich konnte es mir nicht leisten, Klausuren ins nächste Semester zu schieben, in dem ich mein Vollzeitpraktikum und anschließend meine Masterarbeit vollenden würde. In spätestens einem Jahr musste ich fest in der Arbeitswelt stehen und danach würde alles besser werden... So Allah will.

Ich lernte so lange, bis meine Mutter von ihrem Mittagsschlaf aufwachte, und sich einen Instant Kaffee kochte, dessen Geruch in meiner Nase brannte. So lange, bis Rima mit gemachten Hausaufgaben und gesättigt von Nani wiederkam, mich umarmte und dann im Wohnzimmer Fernsehen guckte. So lange, bis die Sonne das Himmelsbett rot färbte, dann hinter dem Horizont verschwand und anschließend unterging, sodass unsere grauen Betonblöcke in einem tiefen Schwarz versanken. Ich stand nur zu meinen Gebeten auf, strapazierte meine sowieso schon wunde Hand, indem ich ein Blatt nach dem anderen füllte. 

Um Mitternacht brannten meine Augen, mein Magen knurrte und mein Kopf fühlte sich an, als würde er explodieren, aber ich machte weiter. So lange, bis meine Mutter sich mit mir an den Tisch setzte und mich schweigend beobachtete.
"Alles ok?"
Sie lachte. "Das sollte ich wohl eher dich fragen."
"Ich habe eine wichtige Klausur zu bestehen." Ich legte meinen Stift beiseite und streckte meine verkrampften Finger. "Wichtiger als deine Familie?"
"Nein?"
Meine Mutter trug ein subtiles Grinsen auf den Lippen, welches ein kaum wahrnehmbares Grübchen in ihre linke Wange grub. Rima hatte eins zu eins dasselbe Grinsen. Aber ihre Augen waren die von Aabo. "Du hast kein Wort mit Rima geredet. Und jetzt schläft sie, weil sie dich nicht stören wollte." Ich rieb meine trockenen Augen und schaute auf die alte Digitaluhr, die auf dem Tresen stand. 00:48. "Sie hat mich begrüßt. Ich hab die Zeit aus den Augen verloren, ich-"
"Es ist alles gut. Deine Schwester ist sehr empathisch für ihr Alter. So, wie Aabo es immer war. Ich wollte dir kein schlechtes Gewissen machen. Ich glaube nur, du gibst dir zu wenige Pausen." Immer noch lächelnd nahm meine Mutter meine Hand in ihre. Sie sah glücklich aus. Zufrieden. Entspannt... Ich konnte es nicht ganz definieren, aber es freute mich, sie so zu sehen. Die wenige Zeit, die ich mit ihr verbringen konnte, sah sie meist ausgelaugt und erschöpft aus.

"Was ist los? Zu viel Putzmittel inhaliert?" Ich lachte über meinen schlechten Witz und meine Mutter stand auf. "Hast du heute überhaupt etwas gegessen?" Sie öffnete den Kühlschrank, aber ich wusste, sie würde nicht viel darin finden. Stattdessen entdeckte sie eine Tüte Fertigsuppe und setzte mir diese auf. Der chemisch herzhafte Geruch füllte die kleine Küche und mein Magen knurrte erneut. Ich beschloss, für heute genug gemacht zu haben, räumte meine Sachen weg und begab mich zu Rima, die leise schnarchend unter ihrer Decke lag. Sorgfältig strich ich ihr über den Kopf und drückte ihr dann einen Kuss auf die Stirn. Ich verweilte einige Minuten auf dem Boden neben ihrem Bett. Mein Kopf auf dem kühlen Gestell lehnend, ihrer regelmäßigen Atmung lauschend. Es war beruhigend und es war wieder einer dieser Momente, in denen ich wünschte, Aabo wäre noch hier. Ich wünschte, er könnte sehen, was für eine wundervolle Tochter er hatte, und wie ähnlich sie ihm war, ohne dass sie ihn jemals kennenlernen durfte. Und ich wünschte, sie hätte ihm im Leben, damit ich nicht die Person war, zu der sie aufschaute. Meine Brust wurde eng und meine Atmung verschnellerte sich. Eine Reaktion meines Körpers auf meine Gedanken. Tief im Inneren hoffte ich, sie würden mehr auslösen. Mich zum Weinen bringen. Aber es passierte nicht. Es passierte bereits seit 8 Jahren nicht.

wär sie nicht da gewesenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt