87. Winzige Narben

14 3 0
                                    

Azrael

Vorsichtig schob ich die Tür zu Erics Büro auf und schielte hinein. Doch der Raum stand leer. Also schlüpfte ich hindurch und schloss sie hinter mir ab. Ich wollte die Akten weiterlesen. Aber ich wollte nicht Eric sehen. Und schon gar nicht wollte ich sehen wie er und meine Mutter bei einander waren.

Stumm setzte ich mich an den großen Tisch und zog eine der Akten zu mir. Anfangs wollte ich helfen um meine eigene Akte zu finden und sie verschwinden zu lassen. Doch jetzt wollte ich sie nur noch finden um die Wahrheit zu erfahren. Ich wollte beweisen, dass Eric nicht diese schreckliche Person war, die sich mein Vater schimpfte. Ich wollte nicht, dass er mein Vater war. Nicht so. Wenn er mein Vater wäre müsste ich ihn hassen. Er hatte mich verlassen. Er hatte dafür gesorgt, dass Mom so viel geweint hatte und mich alleine ließ. Er hatte ihr weh getan. Er war für ihren Schmerz zuständig gewesen. Er war der Grund weshalb Ma mich von dem Zimmer meiner Mutter fern gehalten hatte. Er war nicht dort gewesen um mich zu beschützen. Aber die letzten zwei Jahre war er da gewesen. Er hatte sich um mich gesorgt. Ich konnte in sein Bett kommen, wenn es mir schlecht ging. Er hatte gesehen, wenn mich etwas bedrückte. Seine Gegenwart spendete mir Trost und Sicherheit. Doch das konnte nicht ausgleichen was passiert war.

Vielleicht etwas zu heftig warf ich die Akte in den Kasten für weibliche Teenager. Mit einem lauten Rumpeln stürzte die Box um und riss eine der unbearbeiteten mit sich. Erschrocken sprang ich auf und versuchte die Akten so gut ich konnte wieder zu trennen. Doch noch bevor ich die Hälfte, der bearbeiteten Akten wieder eingesteckt hatte traf ich auf die Neuen. „Azrael Shi.", kam es leise über meine Lippen. Langsam griff ich nach der grünen Pappe und zog sie zu mir. Mein Name war Azrael Greve. Nicht Shi. Doch als ich die Mappe öffnete sah ich das Bild, welches sie geschossen hatten, nachdem sie mich aus der Schule holten. Meine Augen waren rot vom Weinen, ebenso wie meine Wangen. Über meine Lippe floss Blut von der Backpfeife, die mir einer der Männer verpasst hatte als ich mich weigerte mit zu gehen. Der Zopf, den Ma mir jeden Morgen gebunden hatte, war zerstört von den starken Händen, welche mich an den Haaren zu diesem Ort gezerrt hatten. Später hatten sie, sie mir abgeschnitten. Sie hatten mir meine Kleidung weggenommen und mir fremde Stoffe gegeben. Nur meine Kette hatte ich behalten dürfen. Und dann hatten sie mir dieses Metall in den Mund geschoben. Ich wusste nicht wofür bis sie mich aus meinem Zimmer in die Gruppenzellen brachten. Dort wurde ich das erste Mal gebissen.

Unwohl strich ich über meine Arme und blätterte das Profil um. Es zeigten sich Bilder von meinen Gliedmaßen, zerbissen, knochig und blutig. Bilder von meinen Zähnen. Bilder von Bluttests und ihren Ergebnissen. Danach die schriftliche Auswertung. „Menschlich, menschlich, menschlich.", murmelte ich und blätterte weiter durch die Bluttests. „Vampirmerkmale, menschlich, Vampirismus.", führte ich weiter und hielt inne. Es musste einer der Tests gewesen sein, nachdem sie mich zwangsernährten. Eric hatte mir erklärt, dass nur durch das Blut mein Körper seine vampirischen Fähigkeiten entfaltete und mich so am Leben hielt.

Ich blätterte die vorletzte Seite um und starrte auf das letzte Blatt. ‚Azrael Shi (Hybrid), Sohn von Eric Shi ((Vampirismus) Forscher) und Lydia Greve ((menschlich) Ärztin). Mögliches Druckmittel. Greve gibt an, dass Shi nichts von seinem Sohn weiß. Greve sagte, er habe nie anderes Blut als das seines Vaters getrunken. Azrael weißt deutlich auf nichts von seiner Infektion mit Vampirismus zu wissen. Weigert sich Blut zu trinken. Ist verschreckt von Artgenossen. Gebärt sich nicht wie Artgenossen. Ist menschlich aufgewachsen.' Normalerweise steckte zuletzt eine Geburtsurkunde in den Akten. Doch in meiner gab es nur dieses Blatt mit Notizen und einem Post-it auf dem stand: „Keine Geburtsurkunde. Greve wusste von ihrem Verbrechen."

Erschrocken schrie ich auf als mich ein Geräusch an der Tür aus den Gedanken riss. „Ezra? Lässt du mich rein?", fragte Eric wenig später und ich sah wie er erneut die Klinke hinunter drückte. Mein Herz fing an zu rasen. Er war mein Vater. Er war der Grund weshalb ich so war. Aber er war ebenso der Grund weshalb ich lebte.

Langsam erhob ich mich vom Boden und trat zu der Tür, die grüne Mappe fest gegen meine Brust gedrückt. Unsicher löste ich das Schloss und öffnete die Tür. „Hey Kleiner, ich störe nicht lange. Ich wollte nur...", setzte er an doch verstummte als er die Akte in meinen Armen sah. „Du hast sie...", murmelte er und ging vor mir in die Knie. Ich nickte leicht und übergab sie ihm. „Vater...", versuchte ich es leise. Doch der Klang des Wortes schrillte in meinen Ohren und kratze auf meiner Zunge. „Nein, Ezra, sieh mich an.", bat er leise und legte leicht den Kopf schief. „Es muss sich nichts ändern. Ich kann Eric bleiben.", versicherte er mir sanft und ich sah wie er mir seine Hand hin hielt. „Wieso hast du Mom verlassen?", fragte ich unsicher und ignorierte seine offene Hand. „Komm her.", erwiderte er sanft und erhob sich. Seicht berührte er mich an der Schulter um mich zurück zu seinem Tisch zu führen. Dort hob er mich auf die Tischplatte und setzte sich vor mir auf seinen Stuhl. „Ich wollte sie nicht verlassen. Ich habe deine Mutter wirklich sehr geliebt. Sie war für mich die wichtigste Person in meinem Leben. Aber dann passierte das hier. Ich wurde verhaftet, weil ich Menschen getötet haben sollte. Dafür wollten sie mich töten. Ich konnte mich befreien aber danach hatte ich solche Angst, dass ich nicht zurück kehrte. Ezra, ich wusste nicht, dass deine Mutter zu diesem Zeitpunkt schon schwanger war.", erklärte er und legte meine Akte neben mir auf den Tisch. „Wann wusstest du es?", fragte ich weiter. Eric schluckte und atmete tief durch bevor er sagte: „Auf meiner Flucht kam ich bei Chrissy unter. Dort hatte ich Kontakt zu Lydia und sie sagte es mir. Ezra, versprich mir, dass du das nächste nicht falsch verstehst." Kurz schweig er und schien eine Antwort zu erwarten. Doch ich sah ihn nur abwartend an. „Ich hatte ein paar Frauen im Krankenhaus behandelt, die ebenfalls mit einem Hybriden schwanger waren. Jedoch meist von Vamps. Sie alle starben früher oder später und deswegen bat ich deine Mutter ihre Schwangerschaft abzubrechen.", führte er zögerlich weiter, während seine Augen aufmerksam durch mein Gesicht huschten. „Du wolltest, dass sie mich tötet?", fragte ich leise. „Wenn du es so hören willst. Mir ging es um Lydia. Ich wollte sie nicht verlieren. Ich wollte nicht das sie starb und ich wollte nicht, dass sie mit diesem Risiko alleine war.", erwiderte er und griff dann vorsichtig nach meiner Hand. „Ich wollte kein Kind in diese schreckliche Welt setzen und ich wollte nicht, dass sie Lydia wegen meines Kindes verfolgen würden.", fügte er hinzu. Doch das war mir egal. „Du wusstest also doch von mir?", fragte ich stattdessen. Eric schüttelte den Kopf und erklärte: „Deine Mutter versprach es zu beenden. Erst als ich zufällig am Tag deiner Geburt zu ihr kam, erfuhr ich davon, dass sie mich belogen hatte." „Hasst du es, dass ich hier bin?", fragte ich weiter und sah auf seine Hand hinab, die immer noch sanft meine hielt. „Du bist das Beste, Ezra. Ich habe so sehr versucht keine Bindung zu dir auf zu bauen, weil ich glaubte zu wissen, dass du sterben würdest. Dein Herz schlug so ungleichmäßig und du warst so schwach. Aber dich in meinen Armen zu halten... ich kann diesen Moment nicht vergessen. Nichts davon.", erwiderte er und ließ meine Hand los. Mit zittrigen Fingern löste er die ersten Knöpfe seines Hemdes und zog den Stoff etwas zur Seite bis er auf zwei helle Punkte auf seiner Brust, unterhalb seines Schlüsselbeines deuten konnte. „Das warst du. Wenn du das nicht getan hättest, hätte ich dir nicht helfen können und sicherlich wärst du in den nächsten Tagen gestorben. Aber so konnte ich dir etwas von meiner Stärke geben.", sagte er erklärend und beobachtete wie ich meine Hand zu diesen hellen Punkten führte. Wie automatisch fuhren meine Eckzähne aus meinem Zahnfleisch und erneut hatte ich diesen vertrauten Geruch in der Nase. Diese beiden Narben lagen so dicht beieinander. Wie winzig ich gewesen sein musste. „Ezra, es tat mir so unglaublich weh, dass ich deine Mutter in diesem Zustand und mit dir alleine lassen musste. Ich dachte, ihr wärt sicher. Du bist ein Hybrid und damals wusste ich nichts, dachte nur du könntest nicht lange überleben oder sie könnten dich nicht testen. Erst als ich deine Mutter besuchen konnte und sie mir sagte was passiert war, erkannte ich meinen Fehler.", sagte er leise und legte seine Hand auf meine, die jetzt flach unter seinem Schlüsselbein lag. „Ich liebe dich und deine Mutter wie nichts anders auf dieser Welt. Auch bevor ich wusste wer du bist... Vielleicht habe ich es gespürt.", fügte er hinzu. Unsicher zog ich meine Hand zurück. Weg von seiner kühlen Haut. „Okay.", presste ich hervor und rieb mir über die Nase. „Denk über meine Worte nach. Ich verstehe, wenn du wütend bist oder wenn du es nicht verstehst. Es ist okay. Solltest du noch etwas wissen wollen, kannst du mich alles fragen.", sagte er sanft und lächelte mich leicht an um dann sein Hemd wieder zu schließen. 

Vamp Zone 《5》Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt