48. weil er mich liebt

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Victor

Erschrocken blieb ich im Türrahmen stehen und sah auf das Bild, dass sich mir bot. Kenneth kniete wie immer auf dem Betonboden. Jedoch dienten seine Oberschenkel diesmal als Kopfkissen. Zusammen gerollt lag Favio vor ihm. Schon von hier sah ich das zerschlagene Gesicht. Eine Platzwunde, Blutkruste unter der Nase und im Mundwinkel. Eines seiner zweifarbigen Augen war blau geschlagen. „Victor.", hörte ich meinen Stiefsohn leise sagen. „Du darfst nicht herkommen.", fügte er hinzu und sah kurz runter auf Favio. „Es ist kein Verbrechen nach dir zu sehen.", erwiderte ich und trat näher. Erst da sah ich, dass Kenneths eine Hand frei lag während Favio die fehlende Schelle trug. „Was ist passiert?", fragte ich verwirrt. Kenneth kniff kurz bitter die Lippen zusammen bevor er sagte: „Sie werden ihn hinrichten. Sein Freund hat ihn des Verrates beschuldigt und sie werden auch dich..." Seine Stimme brach und ich sah wie er verzweifelt in Favios Hemd griff. „Bitte geh. Ich will nicht, dass sie dir dasselbe antun.", wimmerte er. „Kenneth, wir finden einen Weg.", versprach ich und ging neben ihm auf die Knie. „Es steht noch nicht fest ob Favio verurteilt wird.", fügte ich hinzu und griff nach seiner gefesselten Hand. „Sie können mir nichts vorwerfen. Ich habe nichts getan.", versuchte ich ihn zu beruhigen. Dennoch stiegen Tränen in seine Augen. Dann sagte er: „Lydia ist fort. Sie geben dir daran die Schuld und an dem Brand im Labor. Und woher willst du wissen was sie über Favio entscheiden?" „Kenneth, beruhig dich. Ich stehe im Kontakt zu seinem Vater und der ist ein relativ hohes Tier. Mir wird nichts passieren und er sagt, es sieht auch nicht schlimm für Favio aus. Dieser Freund von dem du sprichst. Er hat hier kein Ansehen. Auch die Leute von oben halten ihn für verrückt.", erklärte ich und legte eine Hand an seine Wange um die erste Träne fort zu wischen. „Ich will zurück. Zurück zu Jacob. Meinetwegen in den Bunker. Nur einfach hier weg. Zurück zudem wie es war.", schluchzte er und ich konnte das leise Klirren der Ketten über mir wahrnehmen. „Warum bin ich so emotional.", wimmerte er verzweifelt und löste seine Hand aus meiner. „Kenneth, hör mir zu. Du bist müde und hast Schmerzen. Favio hatte dein Vertrauen und auch wenn er dich ausgeliefert hat... du bist so ein guter Mensch. Deine Reaktion auf diese Situation ist normal. Du hast Angst und ich verstehe das.", versuchte ich ihn zu beruhigen. Auch wenn ich wusste, dass er sicher weiter panisch reagieren würde. Mir war bewusst das irgendwann der Punkt käme an dem er durch dreht. Nicht nur, dass er seiner Freiheit beraubt wurde, die das Wesen, welches er mit den Flügeln bekam, brauchte, nein, sie hatten ihm jeden Bewegungsspielraum genommen. Dazu konnte ich nicht einschätzen wie stark die Verletzungen seiner Flügel schmerzten, aber was ich sagen konnte war, dass die Haltung, in der seine Körper verweilte, schmerzhaft war und ihn sicher nie schlafen ließ. „Du musst gehen!", schluchzte er und wehrte weiterhin meine Hände ab. „Ken, lass mich dir helfen.", sagte ich leise. Doch er fing nur schlimmer an zu weinen und rief: „Sie werden dich töten und das kann ich nicht... wenn Jacob... Jacob braucht dich."

Im Augenwinkel sah ich wie Favios Kopf sich langsam hob. Doch dann schien er schnell zu begreifen. So schnell er konnte richtete er sich auf und zog Kenneth in seine Arme, was er sofort zuließ, sich sogar selben an den Körper des Mannes presste. Dann sah er zu mir und wies mich an, dass ich die Ketten herunterlassen sollte. Also kam ich dem nach. Währenddessen half Favio Kenneth sich hinzulegen und brachte ihn dazu den Oberkörper in eine gerade Position zu legen, damit er besser atmete. „Ich bin hier.", hörte ich ihn leise flüstern. Stumm blieb ich bei den Kurbeln stehen und schaute mir das Schauspiel an, welches sich mir bot. Mein Stiefsohn, der immer ruhiger wurde je mehr Favio auf ihn einsprach und Favio, der so unglaublich liebevoll mit ihm umging. Wüsste ich nicht was passiert war, würde ich vermuten, dass Favio Ken niemals in den Rücken fallen würde und wenn Kenneth mir nicht gesagt hätte, dass zwischen den beiden niemals mehr als Freundschaft gestanden hat, dann würde ich auch das anzweifeln.

Jedoch konnte ich dieses Bild nicht länger betrachten. Denn in diesem Moment schwang die Tür auf und Johannes betrat den Raum. „Was?", kam es ungläubig über seine Lippen. Sofort drehte Favio sich herum. „Er hat eine Panikattacke.", sagte er und drehte sich umständlich um seine Kette. Johannes sah fragend zu mir. Doch Favio sagte bevor er etwas fragen konnte: „Ich habe ihn darum gebeten. Er hätte sich verletzt. Du willst nicht, dass er..." „Ist okay, Favio. Deswegen bin ich nicht hier.", unterbrach er ihn und trat auf die beiden zu. „Bitte, hilf ihm.", bat Favio leise und beobachtete wie sein Vater vor ihm auf den Boden sank. „Was soll ich tun, Favio? Er ist eine dieser Kreaturen...", setzte er an und nahm Favios gefesselte Hand in seine um dann einen Schlüssel hervor zu holen. „Er wird sterben, wenn er nicht bald an frische Luft kommt. Er ist wie ein Vogel. Wenn wir ihn nicht die Freiheit geben, die er braucht wird er durchdrehen und sterben.", rief Favio verzweifelt und wand sich sofort wieder Kenneth zu als seine Hand frei war. „Favio, hör auf. Sie haben dich gehen lassen. Sie werden eine neue Anschuldigung nicht so einfach abtun. Also bitte, äußere solche Wünsche nicht.", befahl er seinem Sohn. Entgeistert sah Favio zu mir und dann zurück zu seinem Vater. „Das sind keine Wünsche. Dass sollte auch euer Wunsch sein. Oder wollt ihr nicht an ihm forschen können?", erwiderte er. Johannes sah hinab auf Kenneth, der immer noch nicht aufgehört hatte zu weinen und sich auf dem Boden wand wie ein verletztes Tier.

Langsam löste ich mich aus meiner Starre und ging zurück in die Mitte des Raumes. „Dein Sohn hat Recht, Johannes.", versuchte ich Favio zu unterstützen. „Was soll ich tun? Ihn frei lassen?", knurrte er und warf mir einen warnenden Blick zu. „Wir können ihn aufs Dach bringen.", warf Favio ein und trat hinter Kenneth an seine Flügel. „Wie stellst du dir das vor? Wir können ihn dort nicht fest binden. Er wird fort fliegen.", erwiderte sein Vater. Doch Favio kniete schon neben den Ketten und sagte: „Es wird nicht schwer sein eine Kette in der Nähe des Containers in den Boden einzulassen." „Und seine Flügel?", harkte Johannes nach. Favio sah auf und erwiderte: „Was soll mit ihnen sein?" „Sie sind Waffen, Favio. Du weißt das am besten. Niemand wird mehr in seine Nähe gehen können, wenn seine Flügel frei sind.", erklärte er seinem Sohn. Doch Favio schnaubte nur und strich andächtig über die staubigen Federn. „Er wird mir nicht weh tun und er wird auf mich hören. Nur bitte bring ihn hier raus.", bat er leise. „Was macht dich so sicher?", fragte Johannes doch er hatte schon wieder den Schlüssel in den Händen. „Weil er mich liebt.", vernahm ich Favios leise Antwort. 

Vamp Zone 《5》Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt