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Obwohl mein Körper erschöpft war, fand ich in der Nacht keinen Schlaf. Immer wieder glitten meine Gedanken zu Eldrid. Ich malte mir aus, was sie wohl gerade tat. Versuchte gegen neun, sie mir dabei vorzustellen, wie sie die Tiere fütterte, um zehn, wie sie das Geschirr spülte und die Küche schrubbte, um elf, wie sie in den Ställen noch einmal nach dem Rechten sah.

Ob sie dann zu Bett ging? Oder lag sie auch wach? Dachte sie an mich, schmiedete sie Pläne, wie sie es mir heimzahlen konnte? Würde sie jeden Augenblick vor Nevis' Tür stehen und fordern, dass er mich ihr auslieferte?

Unwahrscheinlich, denn sie wusste nichts von unserer Freundschaft, trotzdem verursachte die Vorstellung mir Herzrasen und Magenschmerzen.

Übertrieb ich vielleicht und nahm mich zu wichtig?

Vielleicht hatte sie mich längst abgehakt, meine Sachen verbrannt, und würde sich gleich morgen früh eine neue Magd suchen, die sie quälen konnte, ohne jemals wieder auch nur einen Gedanken an mich zu verschwenden.

Meine Sachen ... Der Gedanke daran, sie für immer verloren zu haben, schmerzte. Nicht so sehr wie der Gedanke, Nevis zu verlieren, aber trotzdem. Ich hatte nicht viel, hatte nie viel besessen und materielle Dinge bedeuteten mir nichts. Lediglich die Kugel und das vergilbte Bild meiner Eltern, die einzigen beiden Andenken, die ich noch an sie hatte, hätte ich gern mitgenommen. Doch ich wusste, dass das nicht ging. Ich konnte nicht zurück zum Hof, um meine wenigen Habseligkeiten zu holen. Nie wieder.


***


In den frühen Morgenstunden dämmerte ich schließlich doch noch ein, nur um kurz darauf wieder aus dem Schlaf zu schrecken. Die Sonne ging langsam auf und obwohl die Aetheria erst um die Mittagszeit ablegen sollte, konnte ich nicht mehr schlafen. Ohne es bewusst zu denken, hatte ich meinen Entschluss längst gefällt. Natürlich hatte ich keine andere Wahl, die Wahrheit war jedoch auch, dass mich der Gedanke daran, Cassiel wiederzusehen und für ihn zu tanzen, mit einer seltsamen Aufregung erfüllte.

Ich weckte Nevis und er bereitete ein karges Frühstück zu, das er brüderlich mit mir teilte.

Während wir die gräuliche Brotsuppe aßen, schwiegen wir. Es war kein angenehmes Schweigen, wie sonst so oft zwischen uns, es war drückend. Es gab nichts mehr zu sagen. Die Wohnung war ausgekühlt an diesem Morgen, der Ofen war über Nacht ausgegangen, und unser Atem bildete einen weißen Schleier in der Luft. Die ersten Sonnenstrahlen wurden draußen vom Schnee reflektiert und im kalten Morgenlicht kam mir alles besonders trostlos vor.

Um kurz nach halb neun klingelte es plötzlich an der Tür. Vor Schreck zuckte ich so heftig zusammen, dass ich den Löffel fallen ließ und die Suppe über den Tisch spritzte. Ich sprang auf und schlug mir die Hand vor den Mund.

»Das ist sie«, flüsterte ich. »Eldrid! Sie kommt, um mich zu holen.«

Ich zitterte so sehr, dass ich meine Arme um den Oberkörper schlang. Meine Gedanken überschlugen sich. »Bitte mach nicht auf.«

Nevis runzelte die Stirn und stand auf. Der Stuhl schabte über den Boden, viel zu laut! Sicher würde sie es hören!

Statt zur Tür zu gehen, kam er jedoch um den Tisch herum und schloss mich fest in seine Arme. Ich drückte mich an ihn, spürte seine Wärme und inhalierte den vertrauten Duft, schwer und holzig.

»Niemals würde ich dich ausliefern«, flüsterte er und streichelte mir über das Haar. »Ich beschütze dich, keine Sorge.«

Er hielt mich ein paar Minuten, bis mein Puls sich etwas beruhigt hatte, doch als es erneut klingelte, ließ er mich los.

Er schlich zum Fenster und sah nach unten.

»Na sowas«, sagte er. »Du kannst dich entspannen, Lumi. Es ist nicht Eldrid.«

»Nicht?« Ich entspannte mich tatsächlich wie auf Kommando.

»Nein.« Er drehte sich zu mir, sein Gesichtsausdruck hatte sich verfinstert. »Es ist er. Der Engel.«

»Was?« Ich stürmte zum Fenster, und tatsächlich: Dort unten stand Cassiel. »Was will er denn schon hier? Das Schiff legt doch erst in ein paar Stunden ab!«

Aufgeregt schlüpfte ich in meinen abgetragenen Mantel. Nevis beobachtete mich dabei mit ausdrucksloser Miene.

Als ich meine Stiefel schnürte, fragte er: »Möchtest du nicht noch in Ruhe fertig essen?«

»Ich bin satt«, entgegnete ich. Keinen Bissen würde ich jetzt noch herunterkriegen. Ich beeilte mich so sehr, weil ich Angst hatte, dass sich am Plan etwas geändert hatte und Cassiel ohne mich gehen würde – immerhin hatte ich nicht zugesagt, er wusste nicht, dass ich mitkommen wollte.

Mit wenigen Schritten hatte ich den Raum durchquert und umarmte Nevis ein letztes Mal. Ich schloss die Augen und drückte mein Gesicht gegen seine Brust.

»Danke, Nevis«, murmelte ich in den groben Stoff seines Hemdes. »Für alles. Du warst mir der beste Freund, den man sich wünschen kann.«

»Pass auf dich auf, Lumi«, brachte er hervor. Seine Stimme klang erstickt.

So gern hätte ich noch mehr gesagt, doch was ich fühlte, ließ sich nicht in Worte fassen. Er fehlte mir jetzt bereits, so sehr. Doch ich wusste, dass ich keine andere Wahl hatte, und weil ich mich beeilen musste und lange Verabschiedungen noch nie besonders mochte, löste ich mich von ihm.

»Du auch auf dich«, sagte ich. Aus einem spontanen Impuls heraus stellte ich mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund.

»Lumi«, keuchte er überrascht, doch ich wartete nicht ab, was er sagen wollte.

Mit hochrotem Kopf wandte ich mich ab und stürmte die Treppen hinab.

Above the Winter Skies [Dark Romantasy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt