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Mein Blick fand sie sofort. Sie lag auf ihrem Bett, hatte die Augen geschlossen und die Hände auf dem Bauch gefaltet. Im ersten Augenblick dachte ich mir, dass sie aussah wie ein schlafender Engel. Doch ich wusste, dass der Schein trog, und dann nahm ich auch hier all das Rot und den schweren, eisernen Geruch wahr. Ich ging näher zu ihr heran und erst dann sah ich all die Verletzungen. All die Schnitte und klaffenden Wunden. Sie trug ihre bordeauxfarbenen Sachen, die Pluderhosen und ein weites Oberteil, und deshalb fiel mir der dunkle Fleck auf ihrer Brust erst beim zweiten Hinsehen auf. Doch dann wurde mir klar, dass sie an einem gezielten Stich in ihr Herz gestorben sein musste. Ihr sanftmütiges, liebevolles Herz ...

Obwohl alles in mir sich dagegen sträubte, streckte ich eine zitternde Hand nach ihr aus und berührte sie am Arm; sie war bereits eiskalt.

Und dann konnte ich nicht mehr.

Ich brach heulend neben Novas Bett zusammen. Und mir wurde eines klar: Was immer hier vor sich ging, Cassiel musste es gewusst haben – und er hatte mich zum Sterben zurückgelassen.



Ich wusste nicht, wie lange ich bei Novas Leichnam saß. Nachdem die Aetheria sich geneigt hatte, stand sie eine ganze Weile in dieser Position in der Luft und zwischenzeitlich hatte ich die Hoffnung, dass sie sich vielleicht doch wieder fangen würde. Auch wenn dieser Gedanke absurd war, denn die Seraphim waren weg und ich hatte keine Ahnung, wie das Schiff ohne die Engel gesteuert wurde und ob es sich komplett ohne ihre Magie überhaupt dauerhaft in der Luft halten konnte.

Möglicherweise vergingen Stunden, vielleicht aber auch nur Minuten. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, irgendwas tun zu müssen. Novas Körper eine Ehre erweisen, sie begraben, oder wenigstens zu bedecken. Sie hatte es nicht verdient, so zu sterben. Sie hatte es überhaupt nicht verdient zu sterben, aber so würdelos schon gleich gar nicht. Nova hätte eine richtige Beerdigung bekommen sollen, in hohem Alter. Mit Massen an Blumen, schönen Liedern und vielen Menschen, die um sie trauerten und schöne Reden für sie hielten.

Ich konnte ihr all das nicht geben, doch ich brachte es auch nicht über mich, sie einfach hier zurückzulassen. Und für einen kurzen Moment überkam mich eine solche Hoffnungslosigkeit, dass ich einfach hier bleiben wollte. Wollte mit ihr zusammen sterben, gemeinsam mit ihr und der Aetheria untergehen.

Irgendwann schreckte ich auf, weil ich auf dem Flur Stimmen hörte. Ich sprang auf und wischte mir hastig die Tränen aus dem Gesicht. Danach lauschte ich, halb in Angst, halb in der Hoffnung, dass jemand von meinen Freunden zurückgekommen war. Diese Hoffnung zerschlug sich jedoch sehr schnell, als die ersten Satzfragmente zu mir durchdrangen.

„Die Seraphim haben sich allesamt verpisst, lange wird sich der Kutter nicht mehr in der Luft halten", sagte eine männliche Stimme, die leicht nasal klang. Ich kramte fieberhaft in meinen Gedanken, hatte jedoch nicht den Eindruck, dass ich sie schon einmal in meinem Leben gehört hatte.

„Wir sollten zusehen, dass wir hier verschwinden, Ezrael", stimmte eine weitere Stimme zu. Auch diese kam mir nicht bekannt vor, genauso wenig wie der Name Ezrael. Ich wusste jedoch, dass es kein Menschenname war – sondern einer für Engel. Mein Herz raste und hastig blickte ich mich um auf der Suche nach einem Versteck, doch es gab keins. Ich hätte mich unter dem Bett verkriechen oder im Badezimmer einschließen können, doch das alles fühlte sich vielmehr nach einer Falle an, denn nach einer Zuflucht.

„Macht euch nicht ins Hemd, wir gehen gleich", sagte eine dritte Stimme, offenbar die von genanntem Ezrael. Der Ton verursachte mir Gänsehaut – aber keine von der guten Sorte. Es klang hart und grob. „Ich will nur noch einmal die Räume hier unten durchgehen, nicht dass wir in der Hektik eine Staubseele übersehen haben. Es wäre ärgerlich, wenn wir nicht alle erwischen."

Mein Magen verkrampfte sich, die Übelkeit kehrte zurück, stärker als zuvor. Man musste kein Genie sein, um zu verstehen, worum es dort draußen ging: Diese Engel, wer auch immer sie waren, würden mich garantiert nicht verschonen. Sie waren hier, um zu töten. Das hatten sie offenbar erfolgreich geschafft.

Mir war klar, dass ich verloren war, wenn ich in diesem Zimmer blieb.

Hastig drehte ich mich zu Nova um und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel.

„Ich werde dich niemals vergessen", flüsterte ich.

Leise schlich ich zur Tür und linste um die Ecke. Ich sah die drei Engel sofort. Sie kamen aus der Richtung, in der der Aufzug lag. Als ich hier unten angekommen war, waren sie sicher noch nicht hier gewesen, also mussten sie durch den Schacht gekommen sein. Der Flur lag im Halbdunkel vor mir, da inzwischen über die Hälfte der Lampen den Geist aufgegeben hatte, aber sie würden mich trotzdem sofort sehen, wenn ich Novas Zimmer verließ, daran hatte ich keinen Zweifel.

Aber mir blieb nichts anderes übrig und noch waren sie weit genug weg, dass ich einen Vorsprung hatte, eine Chance.

Und so stürmte ich aus dem Zimmer und lief los, in die entgegengesetzte Richtung. Ich hatte keine Ahnung, wo ich hin musste und ob es überhaupt einen Ausweg gab, doch es war der einzige Weg, der mir blieb. In der anderen Richtung waren die Engel, außerdem war der Lift kaputt, und so konnte ich nur auf das beste hoffen.

„Da ist noch eine!", brüllte es hinter mir. Ich hörte weiteres Geschrei und Schritte, sie wurden lauter und lauter. Verzweifelt rannte ich, bis meine Lungen brannten, rannte und rannte.

Doch es brachte nichts. Sie waren mir haushoch überlegen, und dann wurde ich an den Haaren gepackt und brutal zurückgerissen.

Above the Winter Skies [Dark Romantasy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt