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Die kommenden Tage vergingen nach einem immer gleichen Muster. Cassiel war tagsüber verschwunden und ich blieb allein in seiner Suite oder traf mich mit Nova und den anderen, wobei wir aufgeregt über unsere Zukunftspläne diskutierten. Auch Daria hatte sich inzwischen angeschlossen und wollte mit uns in Ventura von Bord gehen. Die Einzige, die sich nie an Deck blicken ließ, war Avah, doch ich war nicht sonderlich traurig darüber.

An den Abenden schlief Cassiel mit mir, wobei er es mal sanfter, mal härter wollte. Ich konnte nicht leugnen, dass ich Spaß hatte, dennoch erlaubte er mir nie, selbst zum Orgasmus zu kommen, was mich zunehmend frustrierte. Gleichzeitig spürte ich, dass ich ihn von Tag zu Tag mehr mochte, dass er mir fehlte, wenn er stundenlang verschwunden war, und dass ich tatsächlich anfing, ihm zu vertrauen.



Dann landeten wir endlich in Alpenholm. Ich war unfassbar aufgeregt, denn es war das erste Mal, dass ich einen anderen Ort zu Gesicht bekommen würde als Hjartvik, wo ich mein ganzes Leben verbracht hatte. Offiziell durften wir Menschen das Schiff nicht verlassen, was erklärte, dass ich in Hjartvik keinen zu Gesicht bekommen hatte, obwohl offensichtlich so viele auf der Aetheria arbeiteten. Cassiel kündigte jedoch an, mich am Abend in die ortsansässige Taverne mitnehmen zu wollen, und das machte mich ganz kribbelig. Es tröstete mich auch über den Fakt hinweg, dass er wieder den ganzen Tag verschwunden war und ich allein in seinem Gemach bleiben und dort auf ihn warten musste.

Eine Weile sah ich aus dem Panoramafenster, das den Blick auf eine kleine Stadt freigab. Ähnlich wie in Hjartvik hatte die Aetheria ein Stück außerhalb angelegt, auf einer kleinen Erhöhung, wie es schien. In einiger Entfernung konnte ich unter mir kleine Fachwerkhäuser mit hübschen roten Ziegeldächern ausmachen, im Hintergrund waren gigantische Gebirge mit schneebedeckten Spitzen zu sehen. Es war windig an diesem Ort, was ich daran erkannte, dass die Bäume sich bogen und ihre Äste um sich schlugen, und es musste kalt sein, denn die Menschen, die kamen, um die Engel in Empfang zu nehmen, waren warm gekleidet. Ihre Mäntel wirkten jedoch nicht so dick wie die von uns in Hjartvik, sie waren nicht aus Tierfellen, sondern aus Stoffen, die ihnen um die Beine flatterten. Der wohl größte Unterschied zu meinem ehemaligen Zuhause war allerdings, dass auf der Ebene kein Schnee lag. Die abschüssige Wiese vor dem Fenster war grün und glänzte feucht im Morgenlicht.

All das zeigte mir, dass wir uns zwar noch in Skaldengard befanden, wo es kalt war, doch immer weiter in Richtung Süden vordrangen. Das hatte ich zwar gewusst, es jedoch mit eigenen Augen zu sehen, war großartig. Kurz dachte ich sogar darüber nach, meine Pläne über Bord zu werfen und doch schon in dieser Stadt das Schiff zu verlassen. Bereits hier war es so viel besser als in Hjartvik und ein Teil von mir wollte unbedingt hierbleiben und diesen fremden Ort erkunden, doch ich wischte den Gedanken fort. Ich war noch nicht bereit, mich von Cassiel zu trennen – vor allem aber nicht von Nova. Immerhin hatten wir Pläne, wir wollten gemeinsam nach Ventura gehen und uns dort eine neue Existenz aufbauen. Das würde ich nicht einfach über Bord werfen, nur weil ich es endlich geschafft hatte, in einer anderen Stadt zu landen.

Ich winkte den Leuten vor dem Fenster zaghaft zu, doch keiner beachtete mich. Ein paar sahen in meine Richtung, doch mir schien, als blickten sie an mir vorbei oder durch mich hindurch. Erst dann wurde mir klar, dass sie mich gar nicht sehen konnten, da die Scheiben des Schiffes von außen verspiegelt waren.

Nachdem die Menschen und Engel in die Stadt verschwunden waren und ich mich noch eine Weile am Anblick der Umgebung sattgesehen hatte, verbrachte ich meine Zeit damit, ausgiebig zu baden und mich hübsch zu machen. Ich flocht mein Haar zu einem dicken Zopf, der mir wie ein Seil bis zur Taille fiel, und verwendete sehr viel Mühe darauf, mich zu schminken. Letzteres hatte ich früher nie getan, aber seit ich auf dem Schiff war, hatten mir Nova, Daria und Kelinda einiges beigebracht.

Ich wartete so sehnsüchtig auf den Abend, wenn Cassiel endlich zurückkommen und mich in die Stadt mitnehmen würde, dass es mir so vorkam, als würden die Zeiger der Uhr sich kaum bewegen. Obwohl ich mir bei meiner Garderobe viel Zeit ließ, war ich mittags fertig und hatte im Anschluss nichts mehr zu tun, weshalb ich Cassiels Privatbibliothek durchforstete. Ich fand ein paar Bücher zur Geschichte Araboths, die ich mir zur Seite legte, und sogar eins, das Elyssian und Irdysia mitbehandelte.

Dann machte ich es mir in einem der Sessel bequem und begann zu lesen.

Ich erfuhr an diesem Nachmittag eine ganze Menge, es trug jedoch nicht unbedingt dazu bei, dass meine Zweifel sich zerstreuten. Ganz im Gegenteil. Vor allem das Buch, in dem es um die Cherubim und ihr Verhältnis zu den anderen ging, beunruhigte mich. Anscheinend waren Araboth und Elyssian einmal eins gewesen, bevor sich die Insel Elyssian abspaltete und gen Osten driftete, während das Land Araboth dort blieb, wo es war: Eine gigantische schwebende Landplatte, hoch über den Wolken in Irdysias Westen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es nur ein einziges Reich für die Engel gegeben, die Trennung zwischen Seraphim und Cherubim war nach einem großen Krieg jedoch nötig gewesen. All das lag schon Jahrtausende zurück, dennoch konnte ich mir vorstellen, dass viele Cherubim die Schmach ihrer Niederlage nicht überwunden hatten – eine weitere Bürde ihrer Unsterblichkeit, wie ich fand. Wenn man ewig lebte, kamen einem tausend Jahre wahrscheinlich nur wie ein paar Wochen oder Monate vor.

In dem Buch, das aus der Feder eines Seraphs stammte, stand davon allerdings nichts. Angeblich funktionierte die Trennung hervorragend. Auf den beigefügten Zeichnungen konnte ich jedoch erkennen, dass Elyssian im Gegensatz zu Araboth winzig war, obwohl dort ungefähr gleich viele Engel lebten.

Stirnrunzelnd legte ich die Lektüre irgendwann zur Seite. Selbst wenn das Gerede über einen bevorstehenden Angriff nur Gerüchte waren, konnte ich mir kaum vorstellen, dass die Cherubim ihr Schicksal so positiv aufnahmen, wie ihre Brüder und Schwestern aus Araboth es hier darstellten. Aus dem Reich der Engel vertrieben, auf eine winzige Insel verbannt. Es wäre nur nachvollziehbar, wenn sie einen gewissen Groll auf die Seraphim hegten, selbst wenn ich nicht wusste, was der Auslöser des Krieges gewesen war.

Mit einem Mal kam es mir noch weniger unwahrscheinlich vor, dass in den Gerüchten doch ein Funke Wahrheit stecken konnte.

Above the Winter Skies [Dark Romantasy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt