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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, nackt in die dünnen Laken gehüllt, war Cassiel bereits verschwunden. Auf dem Nachttisch neben mir stand jedoch ein Strauß weißer Pfingstrosen, die einen betörenden Duft verströmten. Ich drückte meine Nase in die weichen Blüten, inhalierte tief und stieß ein Seufzen aus. In Hjartvik wuchsen keine Pfingstrosen, geschweige denn andere Blumen. Sie wurden nur zu besonderen Anlässen importiert, hauptsächlich zum Fest des Eisblumenmarktes, der jedes Jahr an dem Tag stattfand, wenn die Temperaturen zum ersten Mal den Nullpunkt erreichten und es für ein paar Wochen nicht mehr ganz so kalt war. Es war neben der Wintersonnenwende einer unserer größten Feiertage und das Dorf wurde jedes Jahr aufwendig geschmückt und verziert, doch die Pflanzen waren kostbar, so sehr, dass ich kaum jemals eine aus der Nähe zu sehen, geschweige denn zu riechen bekommen hatte. Ich war mir jedoch fast sicher, dass sie nicht annährend so intensiv dufteten, wie die Blumen, die ich auf der Aetheria kennengelernt hatte.

Ich ließ mich zurück in die Kissen sinken und starrte an die Decke des Baldachins über mir. Dass Cassiel morgens verschwunden war, war inzwischen keine Seltenheit mehr. Trotz dessen, dass er sich im Urlaub befand, schien er viel um die Ohren zu haben. Dass er allerdings Blumen auf dem Nachttisch arrangieren ließ, das war neu, und unwillkürlich fragte ich mich, was es zu bedeuten hatte. Waren die Pfingstrosen für mich? Oder war es eine schlichte Dekoration, die keinen tieferen Sinn und Zweck erfüllen sollte? Hatte Cassiel sich überhaupt darum gekümmert oder war es einer der Bediensteten gewesen, der sie ohne das Wissen des Engels dort abgestellt hatte?

Ich wusste nur eins: Die Rosen ließen mein Herz flattern, ein törichtes Gefühl, das ich nicht fühlen wollte. Schnell wischte ich es fort und dachte stattdessen über den vergangenen Abend nach, den Ausflug in die Taverne, der mir einerseits die Schamesröte ins Gesicht trieb, mein Herz auf der anderen Seite jedoch noch schneller klopfen ließ. Auch wenn ich in diese Ortschaft sicher nie wieder einen Fuß setzen konnte, so hatte es Spaß gemacht. Und danach in Cassiels Gemach war es noch nicht vorbei gewesen. Doch dort war es anders gewesen ... Ruhiger. Zärtlicher. Ich dachte an seine warmen Hände, die mich von all den Fesseln befreit hatten, dachte daran, wie sie über meine Haut streichelten, wie Cassiel meinen Körper mit sanften Küssen bedeckt und mir zärtliche Worte ins Ohr geflüstert hatte, bis ich kam, wieder und wieder. Und wie viel Zeit er sich bei all dem gelassen hatte, als gäbe es nur uns beide auf der Welt.

Ich spürte, wie meine Gedanken erneut in eine Richtung abdrifteten, die mir nicht gefiel, und richtete mich entschieden auf. Mir war klar, dass ich drauf und dran war, Gefühle für den Seraph zu entwickeln, wenn ich mich dabei nicht sogar selbst belog. In Wahrheit waren sie natürlich längst da, auch wenn ich mir noch nicht eingestehen wollte, wie tief sie waren. Ich redete mir ein, dass es nur die körperliche Anziehung war, die ich spürte, gepaart mit einem Hauch von Zuneigung, und das war ja nur gesund. Immerhin schliefen wir miteinander und ich musste ihm vertrauen, es wäre schlecht gewesen, wenn ich nicht wenigstens ein bisschen Sympathie für ihn empfunden hätte.

Doch ich war nicht wie Avah. Ich verliebte mich nicht in einen Seraph, nur um mir dann das Herz herausrupfen zu lassen, so dumm war ich nicht.

Ich stand auf und machte mich auf den Weg zur Speisekammer, wo wie jeden Morgen ein üppiges Frühstück auf mich wartete. Der Gedanke daran, es auch heute wieder allein zu mir nehmen zu müssen, versetzte mir jedoch einen schmerzhaften Stich, und ich konnte nichts dagegen tun.

Als ich mich, in das Laken gehüllt, auf meinen Platz sinken und den Blick über all die feinen Speisen gleiten ließ, merkte ich, dass ich kaum Appetit hatte. Ich war hungrig, das schon, und ich griff nach einer dünnen Scheibe Brot, doch wirkliche Lust zu essen verspürte ich nicht. Pflichtschuldig strich ich eine dünne Schicht Butter auf die Scheibe und biss ab, doch ich schmeckte kaum etwas. Was war nur los mit mir? In Hjartvik hatte ich immer Appetit gehabt, dieses Gefühl war neu für mich.

Erst nachdem ich bereits ein paar Bissen hinabgewürgt hatte, fiel mein Blick auf ein Stück Papier, das neben einer Schale mit Orangen lag. Stirnrunzelnd griff ich danach und faltete es auseinander. In fein säuberlicher Schrift, lange, schmale Buchstaben, leicht nach rechts geneigt, stand eine Notiz dort – und die war ganz offensichtlich für mich bestimmt.


Guten Morgen, Schneekätzchen.

Ich hoffe, Du hast gut geschlafen. Heute Abend habe ich etwas Besonderes mit Dir vor und ich möchte, dass Du um Punkt sechs Uhr bereit bist.

Die Kleidung dafür findest Du im obersten Schrankfach.

Bis dahin darfst Du Dich mit Deinen Freundinnen amüsieren, aber wenn mir zu Ohren kommt, dass Du nicht brav warst, werde ich Dich übers Knie legen müssen.


Unwillkürlich stieß ich ein ungläubiges kleines Lachen aus. Beim Lesen des letzten Satzes sah ich den Schalk in Cassiels Augen fast bildlich vor mir, gleichzeitig machte mich die Ankündigung in dem Brief jedoch auch nervös. Er hatte etwas Besonderes mit mir vor? So besonders wie am vorherigen Abend? Wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht so recht, ob ich das wollte. Es war aufregend gewesen, aber es hatte mich definitiv an meine Grenzen gebracht und ich wusste nicht, ob ich dazu bereit war, etwas Derartiges ein zweites Mal zu tun. Oder noch Gewagteres, immerhin hatte Cassiel die Intensität dessen, was er mir zumutete, bisher kontinuierlich gesteigert.

Was würde als nächstes kommen? Und würde ich mich irgendwann zwangsläufig an einem Punkt befinden, wo ich mein Sicherheitswort benutzen und das Spiel abbrechen müsste, würde Cassiel immer weiter gehen? Oder kannte er auch von sich aus eine Grenze?

Mir war klar, dass ich das nur herausfinden würde, wenn ich mich dem Spiel stellte. An Essen war nun überhaupt nicht mehr zu denken und ich legte das halbe Brot zurück auf meinen Teller. Einen ersten Hinweis würde ich mit Sicherheit im Schrank finden.

Mein Herz klopfte wie wild, als ich die Türen öffnete, in ängstlicher Erwartung, was ich dort vorfinden mochte. Noch schlimmer als das Outfit vom vorherigen Abend konnte es wohl kaum sein.

Mir fiel auch direkt ein Stück weißer Stoff ins Auge, der sich deutlich von den anderen abhob. Ich griff nach dem Teil, faltete es auseinander – und erstarrte.

Was zur Hölle hatte Cassiel mit mir vor?!

Above the Winter Skies [Dark Romantasy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt