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Nach der ganzen Geschichte war Cassiel verschwunden und ich hatte ihn im Saal nicht mehr gesehen. Den Rest meiner Schicht verbrachte ich wie betäubt hinter der Bar, und als ich nachts um zwei mit Nova zurück in unser Stockwerk ging, fühlte ich mich plötzlich schrecklich einsam, dabei verstand ich nicht, wieso. Es hatte sich nichts geändert. Oder doch?

"Nun erzähl schon, was hast du mit Cassiel gemacht?", fragte sie mich nun schon zum dritten Mal. Ich seufzte.

"Das Übliche eben."

"O nein, damit lasse ich dich nicht durchkommen!" Sie kicherte wie ein Schulmädchen. Offensichtlich hatte sie etwas zu tief ins Weinglas geschaut.

"Wieso ist das so wichtig?", fragte ich, während ich die Tür zu meinem Zimmer aufschloss. "Du hattest doch auch schon genug Privatbuchungen."

"Ja, aber nicht bei ihm", entgegnete sie. Sie folgte mir in mein Zimmer, offenbar wild entschlossen, nicht aufzugeben, und ließ sich auf mein Bett fallen. "Cassiel ist der Attraktivste von allen, und er geht eigentlich nie ins Separee. Hast du für ihn getanzt? Hatte er spezielle Wünsche?"

O ja, die hatte er, dachte ich.

"Mhm", entgegnete ich vage. Meine Wangen röteten sich, als ungebeten die Bilder in meinem Kopf erschienen. Es tat mir leid, nicht ehrlich zu meiner neuen Freundin zu sein, nachdem wir uns bereits so vieles anvertraut hatten, aber ich brachte es einfach nicht über mich, ihr zu erzählen, was wirklich geschehen war — und was ich fühlte.

"Es war eigentlich ziemlich langweilig", sagte ich deshalb. "Ich hab ein bisschen getanzt, er hat Wein getrunken, das war's."

Nova sah so enttäuscht aus, dass ich lachen musste. "Was?", sagte ich. "Was sollte denn sonst im Separee passieren?"

„Na ja, genau das", sagte sie. „Irgendwie hatte ich trotzdem gehofft, dass es spannender gewesen wäre ... Du weißt, dass sie dich berühren dürfen, wenn du das zulässt, oder?" Ihre Augen glänzten. So neugierig hatte ich sie noch nicht erlebt.

„Nova!", stieß ich hervor. „Wieso sollte ich das wollen?"

Lüge, Lüge, Lüge! Und ob ich es wollte. Ich schämte mich, ihr so ins Gesicht zu schwindeln und nahm mir fest vor, es irgendwann wiedergutzumachen, ihr irgendwann alles zu erzählen, aber erst musste ich es mit mir selbst ausmachen und herausfinden, warum der Engel mich so verwirrte.

Sie lachte. „Ich mein ja nur. Es ist sicher ratsam, sich von den Seraphim fernzuhalten und sie nicht zu nahe an sich ranzulassen, aber du kannst nicht leugnen, dass sie eine gewisse Wirkung auf uns Menschen haben. Vor allem er." Sie runzelte die Stirn und zwirbelte dabei nachdenklich eine ihrer dunklen Locken zwischen Zeigefinger und Daumen. „Ich kann Avah schon irgendwie verstehen."

„War Avah mal mit Cassiel im Separee?" Die Frage war draußen, bevor ich es verhindern konnte, doch ich bereute sie nicht. Ich hatte mich neben Nova auf mein Bett sinken lassen und sah sie nun mit großen Augen an, ängstlich ihre Antwort abwartend.

„Nicht, dass ich wüsste", sagte sie. „Vielleicht vor meiner Zeit."

Ich stieß den Atem aus.

„Du bist doch schon ein halbes Jahr auf den Schiffen unterwegs."

„Ja, aber Avah macht das schon seit drei Jahren. Vor ihrer Zeit auf der Aetheria waren wir gemeinsam auf der Zephyria, aber vorher hat sie über zwei Jahre lang auf der Aurora gearbeitet."

„Drei Jahre!", stieß ich hervor. Von den anderen Mädchen kannte ich die Geschichten, nicht aber von Avah. Sie war an keinem einzigen Nachmittag mit an Deck gewesen. Was bewog eine junge Frau dazu, so lange im Dienst der Engel zu sein? Hatte sie kein Leben, zu dem sie zurückkehren wollte, oder zumindest den Traum von einem Leben außerhalb der Schiffe?

„Das ist sehr lange", stimmte Nova mir zu, „und ich glaube, dass sie Angst hat, bald gekündigt zu werden. Sie ist fast fünfundzwanzig und dir ist ja bestimmt aufgefallen, dass alle Tänzerinnen hier noch sehr jung sind. Daria ist sogar erst achtzehn. Es spricht niemand darüber, aber das ist sicher kein Zufall. Ich glaube, die Engel wollen nur junge Frauen."

„Und ... Cassiel ist auch seit drei Jahren auf Schiffen unterwegs?" Ich verstand es immer noch nicht so ganz. Sowohl die Aetheria als auch die Zephyria und die Aurora waren Kreuzfahrtschiffe, wenn auch die Aetheria das größte war. Es war kein Ort, an dem die Seraphim dauerhaft lebten.

„Soweit ich weiß, lebt Cassiel in Lysandra, Araboths Hauptstadt, im Palast. Er macht vermutlich Urlaub auf der Aetheria, wie die anderen auch. Ich weiß nicht, ob er vorher schon einmal auf einem anderen Schiff war, könnte es mir aber vorstellen." Nova runzelte die Stirn. „Aber ganz ehrlich, ich habe genauso wenig Ahnung, wie du, Lumi. Ich unterhalte mich nicht mit den Engeln und selbst wenn ich es täte, würden sie mir wahrscheinlich nichts erzählen, was irgendwie von Bedeutung wäre. Ich weiß nur das, was alle wissen: Dass die Aetheria ein Luxusschiff ist, und weil es die Jungfernfahrt ist, sind alle möglichen wichtigen Persönlichkeiten aus Araboth anwesend. Bei den nächsten Fahrten wird das sicher nicht mehr so sein, Cassiel wird dann wieder im Palast arbeiten und Michael auch."

„Michael lebt auch im Palast?"

„Soviel ich weiß, ist er Kriegsstratege."

„Großer Gott."

„Na ja, wahrscheinlich eher sowas wie ein Verteidigungsminister", sagte Nova achselzuckend. „Die Seraphim führen ja keine Kriege. So." Sie erhob sich aus meinem Bett. Ich hatte mich längst in meine Decke gekuschelt; inzwischen war es bereits nach drei. „Ich geh jetzt mal rüber. Morgen ist der letzte Tag der Woche. Du kannst dir ja schon mal überlegen, was wir am Sonntag machen wollen, wir haben den ganzen Tag frei."

„Das werde ich." Ich lächelte. „Gute Nacht, Nova."

Above the Winter Skies [Dark Romantasy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt