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Es dauerte nicht lange und wir waren in eine angeregte Unterhaltung vertieft. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie leicht es war, mit Cassiel zu sprechen, und nachdem er uns eine Flasche Wein besorgt hatte, wurde es sogar noch leichter. Die letzten Tage hatten sich unsere Interaktionen meist auf das Bett beschränkt.

Nun sprachen wir über meine Zukunftspläne und ich erzählte ihm von meinem Leben in Hjartvik, wobei sich sein Blick verdüsterte.

„Es tut mir leid, dass du all das durchmachen musstest", sagte er. „Eldrid sollte dafür zur Rechenschaft gezogen werden."

Ich zuckte nur die Schultern. „Bei uns war sowas normal", entgegnete ich. „Viele Höfe hatten Mägde. Die Hausherren und Herrinnen hätten all die Arbeit niemals allein bewältigen können."

Cassiel schüttelte den Kopf. „Das sollte nicht normal sein, nicht auf die Art. Dienerschaft, ja. Doch auch die muss angemessen bezahlt und respektvoll behandelt werden."

Ich kam mir dumm vor, weil ich so mit mir hatte umgehen lassen, also schwieg ich. Dabei wusste ich natürlich, dass er recht hatte. In der Theorie gab es eine vernünftige Bezahlung, eine gute Behandlung und freie Tage. Die Realität sah jedoch anders aus. Bei Eldrid war es mir besonders schlecht ergangen, aber einen wirklich guten Stand hatten die Knechte und Mägde an keinem Ort in Hjartvik gehabt.

Cassiels Blick wurde sanft. „Ich wollte damit nicht sagen, dass du selbst schuld daran bist", sagte er. „Du hast getan, was du tun musstest, um zu überleben. Eldrid ist die Schuldige. Ich weiß, dass es in vielen Gegenden Irdysias übel zugeht, ich weiß, wie Menschen untereinander sein können. Je widriger die Lebensumstände, desto weniger Mitgefühl findet man. Auf dieser Reise habe ich es oft mit eigenen Augen gesehen und es war ... manchmal schwer zu ertragen. Es ist ... Ich wünschte nur, du könntest ..."

Sein Satz verlor sich ins Leere. Noch nie hatte ich ihn so nach Worten ringen sehen. Er schluckte, dann nippte er an seinem Wein und sah zur Tanzfläche. Inzwischen hatte sich die Kuppel richtig gefüllt, der Pianist hatte Unterstützung von einer kompletten Band bekommen und die melancholische Musik war etwas Tanzbarem gewichen, schnelle und langsame Lieder wechselten sich ab und zogen die Engel auf das Parkett. Inzwischen wurden wir glücklicherweise nicht mehr angestarrt.

Ich betrachtete Cassiel und fragte mich, wie er seinen Satz wohl hatte beenden wollen.

Ich wünschte, du könntest das alles vergessen?

Ich wünschte, du könntest Eldrid zur Rechenschaft ziehen?

Ich wünschte, du könntest mit mir kommen?

Schnell verwarf ich den letzten Gedanken wieder, er war absurd.

Ich räusperte mich. „Wie ist es denn in Araboth?", fragte ich ein wenig schüchtern. Ich wusste nicht so recht, ob mir die Frage zustand, ob ich als Mensch überhaupt das Recht dazu hatte, etwas über das Reich der Seraphim zu erfahren. Aber es interessierte mich brennend.

Cassiel seufzte. „Auch nicht immer leicht", sagte er. „Das Land ist wunderschön. Genauso vielseitig wie Irdysia, aber weniger besiedelt, was alles weitläufiger erscheinen lässt. Es gibt gigantische Wälder, in deren Mitte teilweise noch nie ein Seraph vorgedrungen ist. Grüne Wiesen, Bergketten und Sandwüsten. Hinter den Herbstmeeren liegt der Eishimmel, das Winterland. Es ist riesig. Du kannst es dir ein bisschen wie Skaldengard vorstellen. Araboth ist schön, aber sicher nicht perfekt."

Das konnte ich kaum glauben. „In Araboth befinden sich Gerechtigkeit, Reichtum und Heil, die Schätze des Lebens, die Schätze des Friedens und die Schätze des Segens, die Quelle unendlicher Freude, die Seelen der Auserwählten, jene von den Göttern Gesegneten, deren Flügel das Licht der Reinheit tragen. Dort regiert die Herrlichkeit der Schöpfung, wo das Licht der Erleuchtung immerzu strahlt und die Liebe der Götter für alle Ewigkeit brennt", zitierte ich, was uns von klein auf beigebracht wurde, was in unseren heiligen Büchern steht. „Ich finde, dass das ganz wunderbar klingt."

Ich konnte die Wehmut aus meiner Stimme nicht ganz verbergen. Die Vorstellung von Gerechtigkeit, Frieden, Freude und Liebe klang einfach zu gut. Auch wenn all das nicht für uns Menschen bestimmt war.

Cassiel lächelte. „Auch wir haben unsere Probleme", sagte er nur.

„Zum Beispiel den Konflikt mit den Cherubim?", hakte ich nach. Die Worte waren draußen, bevor ich es verhindern konnte, und nur an Cassiels Stirnrunzeln erkannte ich, dass ich zu viel gesagt hatte.

„Was weißt du denn darüber?", fragte er mich.

„Nicht viel, ich ..." Ich wollte mich herausreden, doch mir war klar, dass es keinen Sinn hatte. Außerdem hatte ich nichts Verbotenes getan, er hatte mir schließlich erlaubt, seine Bücher zu benutzen.

„Ich habe davon in einem der Bücher gelesen", gab ich also zu. „Darin stand, dass Seraphim und Cherubim sich Araboth einst geteilt haben, bis die Cherubim nach Elyssian gegangen sind. Nicht ganz freiwillig, wie ich vermute."

Er musterte mich einen kurzen Augenblick, dann langsam glättete sich seine Stirn wieder. Ein etwas schiefes Lächeln trat auf sein Gesicht. „Das ist alles sehr lange her", sagte er vage, „es spielt heutzutage keine Rolle mehr. Eigentlich sollten sie dieses Buch einmal aussortieren, es ist viel zu alt und nicht mehr aktuell."

Seine Augen sagten jedoch etwas anderes. Sie wirkten mit einem Mal verschlossen und ich fragte mich, warum er nicht ehrlich zu mir war. Durfte er es nicht sein? Oder wollte er nicht? Und warum? Um mir keine Angst zu machen oder aus eigennützigen Gründen?

Er griff nach seinem Glas und trank den letzten Schluck Wein. Ein paar Sekunden verstrichen, in denen niemand etwas sagte. Dann stand er auf und reichte mir seine Hand.

„Nun, wo die anderen endlich aufgehört haben, uns anzustarren, würde ich gerne einen zweiten Versuch wagen", sagte er. Er deutete eine Verbeugung an, seine Augen funkelten dabei vergnügt. Er hatte das schwere Thema offenbar bereits abgehakt. „Dürfte ich die Dame um einen Tanz bitten?"

Above the Winter Skies [Dark Romantasy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt