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"Was ist mit deinen Eltern geschehen?", fragte Cassiel

Inzwischen hatten wir unser Essen bekommen – eine riesige Platte mit exotischen Gemüsesorten, die ich noch nie gesehen hatte, die jedoch wahrhaft göttlich schmeckten; vermutlich stammten sie aus Araboth. Wir versuchten uns an einer Unterhaltung, doch es lief etwas schleppend, da ich immer noch gehemmt war, obwohl der Engel mir erlaubt hatte, zu sprechen und Fragen zu stellen.

„Ich weiß es nicht", sagte ich. „Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich war damals zwei. Ich weiß nur, dass sie plötzlich weg waren und ich mein Zuhause verlassen musste. Ich kam nach Hjartvik zu Eldrid, die mich bei sich aufnahm."

„Wo hast du vorher gelebt, mit deinen Eltern?"

Ich zuckte die Achseln. Ich hatte keine Ahnung, Eldrid hatte es mir nie erzählt. Vielleicht wusste sie es auch selbst nicht. Soweit ich wusste, kannte sie meine Eltern nicht. Dass ich bei ihr gelandet war, hatte ich einem Zufall zu verdanken. Ich war eine Waise, musste kurze Zeit in einem Heim in Skaldengard untergekommen sein und man war bei der Wahl der Zieheltern nicht besonders anspruchsvoll, sondern froh, wenn eins der Kinder vermittelt werden konnte. Das war zumindest meine Vermutung.

„Ich denke, dass es irgendwo im Süden war", sagte ich. Davon war ich mein ganzes Leben lang ausgegangen: Ich hasste die Kälte im Norden so sehr, dass ich sicher war, meine Eltern mussten aus Solhart stammen.

Cassiel zog mit seiner Gabel nachdenklich Kreise auf seinem Teller.

„Warum seid Ihr auf dem Schiff?", platzte ich hervor. Meine Wangen röteten sich. Er hatte mir erlaubt, zu fragen – dennoch fühlte es sich respektlos an.

„Auch Engel dürfen einmal Urlaub machen", entgegnete er. Seine Augen blitzten vergnügt.

„Ja, aber Ihr seid kein normaler Engel", sagte ich.

Gott, konnte das noch unangenehmer werden?

„Ich meine ... Ihr lebt und arbeitet im Palast."

Er lachte. „Ich sehe, du hast über mich recherchiert. Es freut mich sehr, das zu hören und dein Interesse an mir ehrt mich. Du hast Recht, ich bin kein normaler Bürger Araboths, sondern sein Regent. Auch Staatsoberhäupter dürfen verreisen."

Ich kam mir töricht vor und senkte den Blick. Dann sprach er weiter, ein wenig sanfter: „Aber natürlich hat es noch mehr Gründe, weshalb ich auf der Aetheria bin. Einer davon ist, dass ich ein paar Besuche in Irdysia erledigen musste und so das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden konnte. Den anderen Grund kann ich dir leider nicht sagen. Es sind politische Internas, über die ich nicht sprechen kann."

„Wart Ihr schon auf vielen Kreuzfahrtschiffen unterwegs?"

Die Frage, die mir eigentlich unter den Nägeln brannte, war: War er Avah auf einem anderen Schiff schon einmal nähergekommen?

Seine Antwort überraschte mich jedoch. „Nein, die Aetheria ist das erste und vermutlich auch das letzte, zumindest für die nächste Zeit. Als Regent hat man nicht so viel Zeit für Urlaub, außerdem bevorzuge ich es, in Araboth zu bleiben, um sicherzugehen, dass dort alles in Ordnung ist. Dass ich nun seit einem Monat unterwegs bin und meine Aufgaben Stellvertretern überlasse, macht mich nervös."

Es überraschte mich, dass er so unverhohlen seine Schwäche zugab. Es machte ihn jedoch auch zugänglicher – und dass dies seine erste Kreuzfahrt war, erleichterte mich mehr, als es das hätte sollen. Denn es bedeutete, dass zwischen ihm und Avah wirklich nie etwas gewesen war.

Ich nahm einen großen Schluck von dem Wein, den Cassiel mir bestellt hatte, um mich für meine nächste Frage zu wappnen. Der vernünftige Teil in mir riet mir, das Thema nicht mehr anzusprechen. Doch da war noch ein anderer Teil, und der fand das alles wahnsinnig aufregend und wollte mehr darüber erfahren. Und wer wusste schon, wann ich wieder die Gelegenheit bekommen würde, allein mit Cassiel zu sprechen? Immerhin würde ich sein Angebot nicht annehmen. Oder?

„Warum ... warum möchtet Ihr das?", fragte ich. Meine Stimme klang viel zu dünn und ich fühlte meine Ohren heiß werden.

„Möchte ich was?"

„Das ... diese Sache, die Ihr mir angeboten habt. Warum? Ich meine ... wieso auf diese Art?" Ich war mir nicht ganz sicher, aber mein Gesicht musste leuchten wie einer der Eiseräpfel in Nevins Garten.

Er lehnte sich nach vorne und stützte sich mit seinen Unterarmen auf dem Tisch ab. Um seinen Mundwinkel zuckte es. „Du meinst, warum ich darauf stehen würde, dich an mein Bett zu fesseln und nach Belieben zu benutzen?"

Ich schluckte und senkte den Blick. Es ging nicht. Wenn er so sprach, konnte ich ihm nicht in die Augen sehen, und gleichzeitig brachten mich seine Worte so vollkommen durcheinander. Wie passte es damit zusammen, dass er mich nicht verletzen wollte? Und warum gefiel mir die Vorstellung, dass er genau das tun würde, trotzdem? Was stimmte nicht mit mir?

„Ich hatte es schon einmal erwähnt", sprach er weiter. Ich hörte, wie er schmunzelte, war jedoch froh, dass er mich dieses Mal nicht dazu zwang, ihn anzusehen, und so starrte ich weiterhin mit wild klopfendem Herzen auf die Tischplatte. „Wir Seraphim lieben schöne Dinge. Wir lieben es, sie zu besitzen und zu benutzen. Vermutlich liegt es in unserer DNA, aber das ist nicht der ganze Grund. Und das ist auch nicht wichtig. Solange alle einverstanden sind und niemand zu etwas gezwungen wird oder zu Schaden kommt, spricht nichts dagegen, auch ungewöhnliche Fantasien auszuleben. Aber nicht alle Frauen mögen es, und Einvernehmlichkeit ist mir wichtig. Warum ich also gerade dich gefragt habe, liegt daran, dass du nicht nur wunderschön bist, sondern dass ich glaube, dass du Gefallen daran finden würdest."

Nun schoss mein Blick doch wieder hoch. „Was?" Meine Stimme war heiser. „Wieso glaubt Ihr das?"

Er nahm einen Schluck von seinem Wein und lehnte sich wieder zurück. „Eine Frage, Lumi: Darf ich dich anfassen? Jetzt? Nur kurz, ich verspreche dir, es wird keine unsittliche Berührung sein und du hast nichts zu befürchten. Ich möchte nur etwas ausprobieren."

Above the Winter Skies [Dark Romantasy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt