~ 8 ~

162 13 0
                                    

Atemlos erreichte ich die Haustür und riss sie auf. In der Nacht hatte es noch mehr geschneit, das weiße Pulver bedeckte die Straßen zentimeterhoch. Und es schneite immer noch. Die Flocken verfingen sich in Cassiels dunklem Haar, das er auch heute wieder zu einem Zopf gebunden hatte, und legten sich auf seinen breiten Schultern nieder. Er trug einen schwarzen Anzug, aber keinen Mantel. Erneut fragte ich mich, ob Engel keine Kälte verspüren konnten, doch ich wagte nicht, ihn zu fragen. Nur kurz sah ich ihm in die Augen, begegnete seinem stechenden Blick, und senkte dann die Lider.

„Guten Morgen, Lumi", sagte er. Seine ruhige, dunkle Stimme vibrierte in meinem Inneren und jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Augenblicklich schlug mein Herz schneller. „Hast du es dir überlegt? Möchtest du mitkommen?"

Ich nickte. „Guten Morgen", brachte ich hervor, wagte es jedoch nicht, ihn anzusehen. Obwohl wir davon ausgingen, niemals einem Engel zu begegnen, lernten wir bereits von klein auf, dass wir sie weder anstarren, noch ansprechen durften. Engel waren heilig, sakral. Es stand uns Menschen nicht zu, das Wort an sie zu richten, aber es kam mir auch unhöflich vor, nichts zu sagen. Ich wusste nicht, wie ich mich richtig verhalten sollte, zumal Cassiels Präsenz noch so viel mächtiger und überwältigender war, als ich es mir je vorgestellt hatte.

Er räusperte sich. „Du darfst mich ansehen, Lumi", sagte er. „Wenn ich dir eine Frage stelle, darfst du antworten. Wenn ich dir ausdrücklich erlaube, zu sprechen, darfst du sprechen. Sonst nicht. Das gilt für alle Seraphim auf dem Schiff. Da du die nächsten Wochen in unserer Gesellschaft verbringen wirst, wird es sich kaum vermeiden lassen, dass unsere Blicke sich hin und wieder begegnen. Für euch Bediensteten gelten andere Regeln als für gewöhnliche Menschen, aber die Einzelheiten wird dir Nova erklären."

Ich nickte scheu, fragte mich gleichzeitig jedoch, wer Nova war. Da Cassiel aber keine Frage gestellt und mir auch nicht die Erlaubnis zu sprechen erteilt hatte, schwieg ich.

Er schien meine Gedanken lesen zu können. Sanft legte er seinen Daumen unter mein Kinn und hob es an, sodass ich den Kopf in den Nacken legen und ihm ins Gesicht sehen musste. Er schmunzelte.

„Du lernst schnell, Lumi", sagte er. „Das gefällt mir. Du fragst dich sicher, wer Nova ist. Ich werde es dir erklären, auf dem Weg. Können wir gehen? Bist du dir sicher, dass du das möchtest?"

„Wir können gehen", sagte ich leise.

Ein warmer Ausdruck legte sich in seine Augen. Er lächelte. „Ich freue mich außerordentlich", sagte er. Dann nickte er und ging voran. Ich folgte ihm, warf dabei jedoch einen letzten Blick zurück. Ich sah Nevis am Fenster stehen, sein Gesicht wirkte niedergeschlagen. Auch wenn ich mich schrecklich fühlte und Angst hatte, einen fürchterlichen Fehler zu begehen, zwang ich ein Lächeln auf meine Lippen und hob die Hand zu einem letzten Gruß. Er winkte traurig zurück. Ich versuchte, das Bild in mein Gedächtnis zu brennen, es zu speichern, zu konservieren. Meine größte Angst war, dass ich ihn vergessen könnte. Seine Stimme, sein Gesicht, seine Wärme.

Dann bogen wir um eine Ecke und das Haus verschwand aus meinem Sichtfeld.

„Nova ist eine der Tänzerinnen", erklärte Cassiel. „Sie ist bereits seit Anfang der Kreuzfahrt auf der Aetheria und hat vorher schon auf einem anderen Schiff gearbeitet, sie kennt sich also sehr gut mit den Gepflogenheiten aus. Selbstverständlich ist auch sie ein Mensch. Sie wird dir alles beibringen und erklären, was es zu wissen gibt, wann immer du Fragen hast, kannst du dich an sie wenden. Die Aetheria legt um die Mittagszeit planmäßig ab, da du jedoch bereits heute Abend arbeiten wirst, hielt ich es für sinnvoll, dich so früh wie möglich mit Nova vertraut zu machen, damit du gut vorbereitet bist."

Das Herz schlug mir bis zum Hals. Heute Abend würde ich bereits tanzen? Es war albern, ich hatte zum Arbeiten angeheuert, und wie Cassiel bereits erwähnt hatte, waren die Seraphim keine Wohltäter. Ich durfte das Schiff aus einem ganz bestimmten Grund betreten. Dennoch fühlte ich mich nicht bereit dazu und hatte gehofft, dass ich noch einen Tag Schonfrist hätte. Bevor ich jedoch länger darüber nachdenken und in Panik verfallen konnte, sprach er bereits weiter.

„Die Aetheria wird sich die nächsten Wochen in der Luft befinden. Es wurde bereits ein Zimmer für dich vorbereitet, dein Arbeitsvertrag liegt dort bereit. Du musst ihn nur noch unterschreiben. Auch wenn du uns in jeder Hinsicht untergeordnet bist, so bist du doch keine Leibeigene. Du wirst angemessen für deine Arbeit bezahlt und kannst jederzeit kündigen. Die Frist hierfür beträgt einen Tag, beachte aber, dass du zur Arbeit verpflichtet bist, solange du dich auf dem Schiff befindest. Eine Kündigung ist kurzfristig möglich, jedoch nur zu den Landezeiten. Die erste Möglichkeit für dich, das Schiff zu verlassen, wird also in zwei Wochen sein, wenn wir unseren letzten Halt in Alpenholm machen. Das Kündigungsrecht gilt selbstverständlich auch für uns. Solltest du deine Arbeit nicht zu unserer Zufriedenheit erledigen, werden wir dich bei nächstmöglicher Gelegenheit entlassen. Ist das ein Problem für dich?"

Ich musste nicht lange überlegen. „Nein", sagte ich und es war die Wahrheit. Ich musste fort von hier, das stand außer Frage, und außer Nevis hatte ich nichts zu verlieren. Ich wollte zwar weg aus Skaldengard, aber selbst in Alpenholm wäre es besser als hier. Es war meilenweit weg von Hjartvik, dort war es nicht so kalt und es war eine Insel mit Seeanbindung, von dort aus wäre es nur ein Katzensprung bis Solhart. Ich musste mich nur für zwei lächerliche Wochen überwinden. Wenn die Bezahlung gut genug wäre, könnte ich bereits beim nächsten Halt kündigen und von Bord gehen, mit dem verdienten Geld könnte ich mir ein Ticket in den Süden kaufen.

Auf einmal hatte ich einen richtigen Plan und das erfüllte mich mit so viel Euphorie, dass ich fast laut losgelacht hätte, wäre ich in Cassiels Gegenwart nicht so eingeschüchtert gewesen.

Es klang so einfach. Zwei Wochen Arbeit, egal wie hart und demütigend sie sein mochte, würde ich schon irgendwie überstehen. Nichts konnte so schlimm sein wie das Leben bei Eldrid. Und im Anschluss wäre ich frei.

Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wie falsch ich lag. Wenn ich gewusst hätte, wie erniedrigend mein Leben auf dem Schiff wirklich sein würde und dass ich in kurzer Zeit keinesfalls frei, sondern eine Sklavin wäre, wäre ich vielleicht umgekehrt und hätte nach einer anderen Lösung gesucht.

Doch das tat ich nicht. Ich folgte Cassiel bis zum Waldrand, und dann ging ich hinter ihm die Zugangsbrücke zum Schiff hinauf.

Above the Winter Skies [Dark Romantasy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt