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Schnell stellte ich fest, dass all die Geschichten, die man sich in der Stadt über die Aetheria erzählte, der Wahrheit entsprachen. Obwohl ich mir große Mühe gab, unauffällig und souverän zu wirken, bekam ich den Mund vor Staunen nicht zu, dabei verließen wir die unteren Decks nicht einmal. Ich konnte keine magischen Gärten, gigantischen Volieren oder aufregende Unterhaltungsmeilen ausmachen, aber ich zweifelte nicht daran, dass sie existierten. Und trotzdem war es beeindruckend. Noch nie hatte ich ein echtes Schiff von innen gesehen, ich war mir jedoch sicher, dass menschliche Schiffe nicht derart prunkvoll waren. Alles hier war aus Glas, Marmor und glänzend poliertem Holz, alles strahlte, blitzte, schimmerte.

Selbst als wir das Deck verließen, zu dem die Zugangsbrücke geführt hatte, und weiter in den Rumpf des Schiffes vordrangen, blieb es beeindruckend, wenn es auch merklich schlichter wurde. Wir stiegen in einen Aufzug, der uns ganz nach unten brachte, und Cassiel führte mich einen schmalen Gang entlang, von dem zu beiden Seiten unzählige Türen abgingen.

Hier unten war alles ziemlich eng und plötzlich fühlte der Engel sich unglaublich nah an, was mir die Hitze ins Gesicht trieb. Draußen war ich darauf bedacht gewesen, genug Abstand zu ihm zu halten. Hier unten war das kaum möglich, wenn ich nicht mehrere Schritte hinter ihm laufen wollte, was unhöflich gewesen wäre.

Während wir also schweigend den Gang entlang gingen, berührte meine Schulter dabei fast seinen Arm. Ich spürte das Flimmern zwischen unseren Körpern, eine seltsam aufgeladene Atmosphäre lag in der Luft, doch ich war mir nicht sicher, ob Cassiel es auch spürte. Er ließ sich nichts anmerken. Vielleicht war es auch eine normale menschliche Reaktion auf die körperliche Nähe eines Engels. Ich wusste es nicht, aber ich drückte mich an die Wand und versuchte verzweifelt, so viel Luft wie nur möglich zwischen uns zu bringen.

Erleichtert atmete ich auf, als er vor einer unscheinbaren Tür stehen blieb, die sich lediglich in der Zimmernummer von den anderen unterschied.

„Das ist das Zimmer von Nova", sagte er. „Sie wartet bereits auf dich und ich überlasse dich ab hier ihrer Obhut, sie kann dir alles weitere zeigen und erklären. Betrachte Nova als deine direkte Ansprechpartnerin. Wann immer du Fragen oder Probleme hast, kläre das mit ihr."

Er sprach höflich, aber ich verstand trotzdem, was in seinen Worten mitschwang: Von den Aufführungen abgesehen, wollten die Seraphim nichts von mir hören und sehen.

Mir war das nur recht. Ich nickte und Cassiel klopfte dreimal kräftig an die Tür. Einen Augenblick später schwang sie auf und eine junge Frau mit schwarzen Locken stand vor mir. Sie war bildschön, sah jedoch anders aus als alle Menschen, die ich bisher kennengelernt hatte. Ihre Haut war dunkler und ihre Kleidung dünner. Sie trug bunte Pluderhosen aus einem seidigen Stoff, der ihre langen Beine umschmeichelte, dazu ein enges, kurzes Oberteil in Schwarz, das mit Spitzen verziert war und den Blick auf ihren nackten Bauch freigab. Augenblicklich fühlte ich mich mit meinen dicken Wollröcken furchtbar altmodisch, dabei war das natürlich albern. In Novas Aufzug wäre ich in Hjartvik schlichtweg erfroren.

Neugierig betrachtete sie mich aus glänzend schwarzen Augen. Ich bemerkte, dass ihr Blick an meiner Verletzung hängenblieb und schämte mich ein wenig. Unauffällig schob ich mir eine Haarsträhne in das Gesicht, die das blaue Auge hoffentlich ein wenig überdecken würde.

„Ich bringe dir die neue Tänzerin", sagte Cassiel nun an Nova gewandt. „Kümmere dich gut um sie."

Sie nickte und zog mich in ihr Zimmer. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass der Seraph eine Sekunde später bereits verschwunden war, dann fiel die Tür ins Schloss.

Ich sah mich in Novas Zimmer um. Es war winzig und hatte kein Fenster, aber die Einrichtung war hübsch. Es gab ein richtiges Bett, einen kleinen Schrank, einen schmalen Tisch und ein Regal, das mit allerhand Zeug gefüllt war. Außerdem eine weitere Tür, die weit offen stand und offensichtlich in ein kleines Badezimmer führte.

Nova bemerkte meinen Blick und sagte: „Dein Zimmer sieht ähnlich aus. Soll ich es dir gleich zeigen? Möchtest du dich ein bisschen ausruhen?"

Ich schüttelte den Kopf. „Wenn es für dich in Ordnung ist, würde ich erstmal hierbleiben. Ich bin etwas erschlagen von all den Eindrücken. Und ich bin froh, wenn ich jetzt nicht allein sein muss."

Sie grinste und warf sich auf ihr Bett. „Kann ich verstehen. Hast du schon viel vom Schiff gesehen?"

Ich schüttelte erneut den Kopf. „Cassiel hat mich direkt zu dir gebracht."

„In Ordnung." Sie lächelte und mir wurde klar, dass ich sie mochte. Wir hatten noch nicht viele Worte miteinander gewechselt, aber etwas an ihr wirkte warm und vertraut, erinnerte mich an Nevis. „Du wirst sehen, es ist toll hier", sagte sie nun. „Und wir haben die beste Arbeit überhaupt!"

Ich runzelte ungläubig die Stirn und sie lachte. „Nun schau doch nicht so! Du bist doch wegen der Arbeit hergekommen, oder?"

„Na ja", sagte ich wahrheitsgemäß, „es war der einzige Weg für mich, Hjartvik zu verlassen. Und ich musste weg."

Ihr Blick verfinsterte sich. „Wegen dem hier, oder?" Sie deutete auf mein blaues Auge. „Wer hat dir das angetan? Ein Mann? Dein Freund?"

„Nein, kein Mann. Es war ..." Ich rang nach den richtigen Worten, wusste nicht, wie ich Eldrid dieser Fremden gegenüber richtig beschreiben sollte. Eldrid war meine Herrin, aber das fasste nicht im Ansatz zusammen, was sie wirklich für mich gewesen war. Sie hatte mir Arbeit gegeben, aber auch ein Zuhause, wenn es auch kein schönes gewesen war. Nach dem Verlust meiner Eltern war sie das gewesen, was einer Mutter am nächsten gekommen war. Das auszusprechen brachte ich jedoch nicht über mich; es war einfach zu traurig.

Nova winkte ab. „Ist nicht so wichtig. Du hast recht, es geht mich nichts an. Wenn du irgendwann über irgendwas reden möchtest, ich bin für dich da. Hier hast du jedenfalls nichts zu befürchten. Die Seraphim lassen uns in Ruhe und ich bleibe dabei: Die Arbeit ist großartig! Jeden Abend ein bisschen tanzen und ansonsten hast du hier ein schönes Leben. Du siehst die ganze Welt, hast genug zu Essen und einen gemütlichen Schlafplatz und den ganzen Tag frei. Und eine neue Freundin gibt es gratis obendrauf!"

Sie sprang auf und zog mich in eine Umarmung. Ich war so überrumpelt davon, dass mir die Luft wegblieb, aber einen Augenblick später machte sich ein neues Gefühl in mir breit: Wärme.

Above the Winter Skies [Dark Romantasy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt