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„Ich bin wohl alles andere als eine Dame", sagte ich, musste jedoch lachen und stand auf. Inzwischen hatte ich genug Wein intus und fühlte mich halbwegs wohl, jetzt wo ich nicht mehr den neugierigen und abfälligen Blicken der anderen Seraphim ausgesetzt war. Und tatsächlich machte die Musik mir Lust, mich zu bewegen.

„Wie kommst du denn auf sowas?", fragte er überrascht.

„Na ja. Ihr wisst, was ich bin."

Er grinste und strich mit den Fingern über mein Halsband. Kurz streifte er dabei mein Schlüsselbein, was mich schaudern und mein Herz schneller schlagen ließ. „Du kannst auch beides sein", sagte er leise. „Heute Abend eine Lady, heute Nacht wieder meine Hure. Wenn du das willst."

„Nichts möchte ich lieber sein", flüsterte ich.

Ich folgte ihm zur Tanzfläche und wir versanken mühelos in der Menge. Dutzende Seraphim tanzten um uns herum, doch sie schenkten uns kaum Beachtung. Offensichtlich war ihnen meine Anwesenheit tatsächlich bereits langweilig geworden, vielleicht lag es jedoch auch daran, dass es inzwischen dunkel war und die Tanzfläche nur von vereinzelten schwebenden Fackeln erleuchtet war, die nur Schemen erkennen ließen.

Die Band hatte zu einem langsamen Lied angesetzt und Cassiel legte eine Hand an meinen unteren Rücken, die andere verschränkte er mit meiner. Ich legte meine freie Hand an seine Schulter, dann zog er mich zu sich und so tanzten wir. Ich schloss die Augen, fühlte die Musik in mir nachklingen. Sie war anders als die Musik, die ich bisher auf dem Schiff gehört hatte. Anders als die energetischen und rauen Klänge, die unsere Tänze im Nachtlokal begleitet hatten, anders als die psychedelischen Töne im Restaurant und in der Nebelgalerie. Es war auch anders als die mitreißende, leidenschaftliche Tanzmusik, zu der wir im Maschinenraum gefeiert hatten und die so ähnlich geklungen hatte wie das, was ich aus Hjartvik gewohnt war.

Diese Klänge hier waren vollkommen neu für mich. Sie waren dramatisch, melancholisch, tiefgründig, sanft und mitreißend zugleich, voller Wehmut und Sehnsucht. Und ich fühlte sie so sehr, dass ich fast weinen musste.

Ohne es zu merken, krallte ich die Finger in Cassiels Hemd, woraufhin er mich noch enger an sich zog und mich festhielt. Mit der anderen Hand streichelte er mir sanft über das Haar. Ich legte den Kopf an seine Brust und lauschte seinem Herzschlag, spürte seine Wärme, inhalierte den inzwischen so vertrauten Duft, und so wiegten wir uns zur Musik, auch dann noch, als die Band längst wieder zu einem schnelleren Stück gewechselt hatte.

Sein Herz schlug viel zu schnell, so kam es mir vor. Oder war es mein eigenes?

Ich wusste nicht, wie lange wir getanzt hatten. In seinen Armen verlor ich jegliches Gespür für die Zeit, es mussten acht oder neun lange Lieder, bestimmt eine Stunde vergangen sein, bis mich eine Stimme aus meiner Trance riss, die ich leider noch in zu guter Erinnerung hatte – und die so ziemlich das Letzte war, was ich in diesem Augenblick hören wollte.

„Ihr zwei seid ja zu süß", hörte ich sie sagen. „Wie Nektar und Ambrosia." Erschrocken fuhr ich hoch, nur um geradewegs in Michaels feixendes Gesicht zu blicken, der neben Cassiel aufgetaucht war. Er lächelte, doch seine Augen strahlten eine Kälte aus, die mir den Magen umdrehte. „So ein niedliches Pärchen. Du weißt aber schon, dass du sie nicht behalten kannst, oder? Haustiere sind im Palast nicht erlaubt."

„Sie ist ein Mensch", knurrte Cassiel, ohne seinen Griff um meine Taille auch nur zu lockern. „Kein Tier. Und wie du siehst, sind wir gerade beschäftigt, wenn du mir also nichts Wichtiges mitzuteilen hast, gehst du jetzt besser. Wir möchten gerne unter uns sein."

Doch Michael lachte nur. Er schlug ihm kumpelhaft mit der flachen Hand auf die Schulter.

„Ich mach doch nur ein bisschen Spaß, Cass. Aber im Ernst, häng dich nicht zu sehr rein. Natürlich ist sie ein Mensch, und du weißt, dass sie den Tieren ähnlicher sind als uns Engeln. Menschen können keine Liebe empfinden und somit auch keine Liebe geben. Nur Lust. Das ist völlig in Ordnung, aber du solltest es nicht verwechseln. Ich habe das Gefühl, sie tut dir nicht gut. Sei kein Narr."

Ich wollte etwas entgegnen, widersprechen, laut herausschreien, dass es nicht stimmte, dass ich sehr wohl in der Lage war, Liebe zu empfinden. Doch plötzlich war ich mir nicht mehr sicher.

Ich war noch nie verliebt gewesen. Das, was ich für Cassiel empfand, kam dem Gefühl am nächsten, doch war es das wirklich? Oder ließ ich mich von etwas täuschen, das eindeutig nur eine körperliche Reaktion war? War ich so erbärmlich, dass ich Verlangen mit Verbundenheit verwechselte, Leidenschaft mit Liebe? War ich wirklich so dumm wie Avah?

„Ich denke, ich kann ganz gut selbst entscheiden, wer oder was gut für mich ist", erwiderte Cassiel kühl und wandte sich ab. Michael jedoch packte ihn an der Schulter und zog ihn zurück.

„Du solltest wirklich aufpassen, mit wem du dich abgibst", zischte er. „Die anderen reden schon und du weißt ganz genau, dass im Moment nicht die richtige Zeit ist für solche Experimente. Sieh dich besser vor, nicht dass du noch etwas bereust."

Damit drehte er sich um und verschwand in der Menge. Verwirrt und beunruhigt starrte ich ihm hinterher. Was er da von sich gegeben hatte, hatte wie eine Drohung geklungen – doch konnte das wirklich sein? Konnte er es wirklich wagen, Cassiel zu drohen – dem Regenten, dem Erhabenen?

Er jedenfalls schien von Michaels Auftritt nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Er schien sich mehr Gedanken um mich zu machen.

„Ist alles in Ordnung?", fragte er.

„Sagt Ihr es mir."

„Unser politisches System ist ein wenig kompliziert, es gibt eine sehr strikte Hierarchie", sagte er und seufzte. „Ich weiß, dass Michael ein Ekelpaket ist, aber ich kann ihn nicht einfach absetzen lassen, zumindest noch nicht. Also bin ich gezwungen, irgendwie mit ihm auszukommen, und meistens funktioniert das auch ganz gut. Nur leider sind wir nicht bei jedem Thema derselben Meinung."

„Zum Beispiel wenn es um Menschen geht", sagte ich tonlos.

„Nur damit du es weißt, wir teilen diese Ansicht nicht."

Ich nickte nur. Der Kloß in meinem Hals war zurück. Verflogen war der kurze Zauber dieses Abends, Michaels Worte hatten mir deutlich in Erinnerung gerufen, wo ich in den Augen der Engel stand, wie viel ich wert war: nichts.

Cassiel musterte mich einen Augenblick lang besorgt, dann griff er nach meiner Hand. „Hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang an Deck? Ich glaube, ein wenig frische Luft würde uns beiden guttun."

Above the Winter Skies [Dark Romantasy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt