~ 49 ~

126 5 0
                                    

„Und du bist dir ganz sicher, dass wir das dürfen?" Nova schaffte es nicht, ihre Aufregung zu verbergen. Gleich nachdem Cassiel aus seinem Gemach verschwunden war, hatte ich mich geduscht, in Schale geworfen und in Eile gefrühstückt – Pfannkuchen und Beeren –, um mich dann direkt auf den Weg zu meiner Freundin zu machen. Ich berichtete ihr von Cassiels Beschwichtigungsversuchen, was die Gerüchte betraf, doch das Thema wurde ohnehin sofort uninteressant, sobald ich die Nebelgalerie erwähnte.

„Er hat es versprochen", sagte ich mit fester Stimme und drängte die Zweifel zurück. Ja, gestern Abend hatte er mich angelogen, doch es war ein Teil des Spiels gewesen. Er hätte keinen Grund, mir einen Ausflug in die Nebelgalerie zu versprechen – noch dazu mit Nova –, nur um uns dann auflaufen zu lassen.

„Okay", sagte sie atemlos, was mehr wie eine Frage klang.

Wir hasteten den Gang entlang, beide in die schönsten Sachen gekleidet, die wir in unseren Schränken hatten finden können. Nova trug eine weite burgunderrote Hose und ein passendes kurzes Oberteil dazu, ich eins meiner weißen Kleider, das mir bis zu den Knien reichte – und natürlich das Halsband mit dem Flügel, das ich niemals ablegte. Wir hatten keinen Schimmer, was uns in der Galerie erwarten würde, doch uns war sofort klargewesen, dass wir uns diese Gelegenheit nicht entgehen lassen durften. Seit ich mit Cassiel in diesem wundersamen Garten essen war, träumte ich davon, das Reich der Engel ein zweites Mal besuchen zu dürfen. Und die Erfahrung nun mit meiner besten Freundin teilen zu können, war wundervoll.

Wir stiegen in den Aufzug und fuhren hoch in den sechsten Stock. Als der Lift zum Stehen kam und die Türen sich mit einem leisen Zischen öffneten, schlug Nova sich die Hände vor den Mund.

„Oh! Mein! Gott!"

Sie hatte recht. Auch mir blieb für einen kurzen Moment die Spucke weg. Es war unglaublich – für meine Freundin wohl umso mehr, schließlich war es das erste Mal, dass sie eines der Engel-Decks zu Gesicht bekam. Ich konnte sie verstehen. So ungefähr musste auch ich ausgesehen haben, als ich zum ersten Mal den Gang zu Cassiels Gemach gesehen habe.

Nur, dass es hier keine Sterne gab, kein Universum.

Sondern Nebel.

Die Luft vor uns war von einem weiß schimmernden Schleier erfüllt, der jedoch nur zum Teil verbergen konnte, was sich dort befand. Eine schier endlose Galerie erstreckte sich vor uns, gesäumt von marmornen Säulen und Skulpturen, und verlor sich irgendwo in der Ferne im weißen Nichts. Riesige Tore und im Schatten halb verborgene Durchgänge befanden sich links und rechts des Weges, hunderte von mystischen Eingängen in verborgene Welten.

Vorsichtig setzte ich den ersten Fuß in die Galerie und sog tief die Luft ein; sie war kühl und frisch, und erinnerte mich an die Luft im Wald bei Hjartvik an einem regnerischen Morgen. Unwillkürlich stieß ich ein Seufzen aus. Der Duft erinnerte mich an Nevis, und an einen Ort, der niemals ein Zuhause für mich gewesen war – und dennoch fühlte ich einen kurzen Stich des Heimwehs.

„Wo gehen wir nun hin?", flüsterte Nova, die neben mich getreten war.

Ich zuckte die Achseln. „Wir haben die Erlaubnis, dieses Deck zu besuchen, also dürfen wir hier überall hin", sagte ich. „Lass uns einfach mal weitergehen und uns umsehen."

So selbstsicher, wie ich mich gab, war ich allerdings nicht. Im Gegensatz zu dem Garten, wo ich mit Cassiel essen war, war es irritierend leer hier oben. Wir waren die einzigen Lebewesen, zumindest kam es mir so vor. Die Nebelschwaden schlängelten sich um unsere Füße und die Luft war erfüllt von einem leisen Flüstern, das ich weder verstand, noch zuordnen konnte. Die Atmosphäre war nicht direkt unheimlich, aber irgendwie unwirklich und zu geheimnisvoll, um entspannt zu sein. Dennoch setzten wir tapfer einen Fuß vor den anderen, und erst nach einer Weile merkten wir, dass wir uns instinktiv an den Händen hielten.

Als es uns bewusst wurde, mussten wir beide lachen, doch wir ließen einander nicht los.

Schließlich erreichten wir das erste Tor. Es schien keine Tür zu geben, doch der Nebel war hier so dicht, dass in dem offenen Portal nichts zu erkennen war als der weiße Dunst, der hier alles bedeckte.

„Sollen wir da reingehen?", fragte Nova. Ihre Stimme klang leise und ein wenig piepsig, sehr viel ängstlicher, als ich sie je erlebt habe. Ich drückte ihre Hand.

„Lass es uns probieren", sagte ich.

Ich wollte gehen, doch sie rührte sich nicht vom Fleck. „Was ist, wenn es ein Trick war?", hauchte sie. „Wenn wir ... ich weiß auch nicht, vom Schiff fallen, sobald wir durch diese Tür gegangen sind? Oder etwas Schlimmeres?"

„Cassiel hat mir versprochen, dass ich bei ihm sicher bin", sagte ich. „Und ich glaube ihm." Ich kam mir töricht vor, es auszusprechen, auch wenn es die Wahrheit war. Ich wusste ja, was Nova von den Seraphim hielt, doch auch wenn ich mir nicht sicher war, dass er immer ehrlich zu mir war, wollte ich ihm doch diese eine Sache glauben: Dass er mir nichts antun würde. Das musste ich auch, denn wenn ich nicht beschlossen hätte, ihm in diesem Punkt zu vertrauen, hätte unser ganzes Arrangement keinen Sinn.

Meine Worte trugen jedoch nicht wirklich zu Novas Beruhigung bei, also fügte ich hinzu: „Und er hat ausdrücklich gesagt, dass ich dich mitbringen darf. Du weißt doch, was im Vertrag steht. Den Tänzerinnen darf nichts geschehen, sie dürfen nicht berührt oder körperlich versehrt werden und müssen wohlbehalten nach Irdysia zurückkehren können", zitierte ich.

Das schien zu wirken. Nova entspannte sich, sie reckte das Kinn und nickte langsam.

„Also gut", sagte sie. „Wagen wir es. Wer weiß, wann wir wieder so eine Chance bekommen?"

Ich grinste. „Eben. Wird schon schiefgehen."

Und dann traten wir gemeinsam, Hand in Hand, durch das Nebeltor.

Above the Winter Skies [Dark Romantasy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt