Breathe - Atme wenn du kannst - Teil 50

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Kapitel 55 - Janey

»Ist er weg?«, fragte ich, als meine Mutter mein Zimmer betrat. Sie nickte, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Ich legte das Buch beiseite, das ich angefangen hatte, zu lesen, um mich davon abzulenken, dass Max bei uns zum Essen war. Doch hätte mich jemand danach gefragt, um welche Geschichte es sich handelte, hätte ich passen müssen. Ich hatte krampfhaft versucht, mich zu konzentrieren, war jedoch erfolglos geblieben.

»Er ist nett, gutaussehend, sehr kultiviert und hat einen gesunden Magen«, berichtete meine Mutter und lächelte.

Das mit dem gesunden Magen konnte ich bestätigen, genau wie all die anderen Dinge, die sie aufgezählt hatte. »Er erinnert mich sehr an deinen Vater Janey«, störte sie meine Gedanken.

Wie bitte? Meine Mutter redete nie über meinen Vater. Und erst recht nicht mit einem Lächeln im Gesicht oder mit dieser weichen Stimme, in der sie gerade sprach.

»Er hat immer die besten Seiten in mir zum Vorschein gebracht. Es gab soviel Leidenschaft zwischen uns.«

Sie starrte an mir vorbei, hinaus zum Fenster. Es wirkte so, als würde sie sich daran zurückerinnern.

»Wenn ich nicht so unter dem Einfluss meiner Eltern gestanden hätte, hätte er mich nicht verlassen«, sprach sie und schüttelte ihren Kopf.

»Deine Großeltern haben mich genauso unter Druck gesetzt, wie ich es bei Jake und dir getan habe. Ich habe deinen Vater so sehr geliebt, doch habe ich die Chance verpasst es ihm zu sagen. Es war meine Schuld, dass er mich verlassen hat!«

Sie hielt inne und atmete heftig ein und aus. Meine Mutter wirkte, als ob ihr das eben erst bewusst geworden war. Ich hatte meine Mutter noch nie so verletzlich erlebt, noch nie so einsichtig. Es weckte in mir den Wunsch, ihr zu sagen, wie sehr ich sie liebte.

»Mom, ich liebe dich.« Sie lächelte mich lieb an. »Ich liebe dich auch, mein Schatz.«

Sie stieß sich von der Tür ab und trat auf mich zu. Als sie bei mir stand, zog sie ihr grünes Etuikleid ein Stück nach oben. Sie wirkte aufgeregt. Als sie ihre Seidenstrumpfhose etwas herunter streifte, fragte ich sie, was sie da tat. Sie zog ihren Slip noch etwas hinunter und wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es nicht glauben. Ein Tattoo kam zum Vorschein.

Meine Mutter hatte ein Tattoo, auf der linken Seite ihres Unterbauchs. Ich verzog mein Gesicht zu einem Lächeln, als ich sah, dass es der Name meines Vaters war. Eine leichte Röte stieg ihr ins Gesicht. Ich war begeistert.

»Mom ich hatte ja keine Ahnung!« Als sie sich wieder anzog, sagte sie: »Dein Vater hat ebenso eines.« Das wusste ich. Ich hatte es oft gesehen, wenn wir schwimmen waren oder er oberkörperfrei im Haus herumgelaufen war. »Ich weiß, auf der Brust«, entgegnete ich. Zu meinem Vater passte das Tattoo. Es war stimmig. Doch zu meiner Mutter? In ihrer perfekten Art? In ihrem perfekten Leben war es so unvorstellbar, sie mit einem Tattoo zu sehen.

Sie räusperte sich. »Ich weiß, dass du ebenfalls eins hast, Janey und ich könnte mir vorstellen, dass Max etwas damit zu tun hat.«

Unwillkürlich musste ich daran denken, wie Max mit mir ins Tattoostudio gegangen war und mir nicht eine Sekunde von der Seite gewichen war, als die Nadeln meinen Körper aufgerissen hatten. Ich nickte. Meine Mutter setzte sich auf mein Bett und sah mich jetzt mit ernster Miene an.

»Janey ich will nicht, dass du den, selben Fehler machst wie ich. Ich bereue es jeden Tag deinen Vater verloren zu haben.« Ihre Stimme klang ernst. »Ich habe Max gebeten zu gehen, damit du Zeit zum Nachdenken hast. So eine Begegnung wie mit ihm wirst du nur einmal im Leben haben. Sie kommt kein zweites Mal. Ich denke, er ist ein Mann, der dich sehr glücklich machen kann und ich denke, dass egal wie viel Zeit du brauchst, er sie dir gibt. Leb dein Leben, Janey!«

Die Worte meiner Mutter hauten mich von den Socken. Bis vor ein paar Tagen hatte ich mir nicht auch nur ansatzweise vorstellen können, dass sie jemals so etwas zu mir sagen würde, oder dass sie mir erzählte, wie sehr sie meinen Vater geliebt hatte. Oder dass sie ein Tattoo mit dem Namen meines Vaters trug, das war alles so neu für mich und erfüllte mein Herz mit einem Gefühl von Wärme und unendlicher Liebe. Ich hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, deshalb kämpfte ich nicht weiter dagegen an. Es war schon schön zu wissen, dass meine Mutter solche Gefühle zulassen konnte und dass sie sich mir so geöffnet hatte. Ich wusste, auch wenn mich der Gedanke schmerzte, wem ich all das zu verdanken hatte. Egal, wie Max in mein Leben getreten war, unter welchen Umständen wir uns kennengelernt hatten. Er war dafür verantwortlich und dafür war ich ihm unendlich dankbar.  

Atme, wenn du kannstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt