Breathe - Atme wenn du kannst - Teil 1

394 25 35
                                    

Kapitel 1

Ich ließ meinen Blick durch den gesamten Speisesaal schweifen und hörte die schrille Stimme meiner Mutter neben mir. Mein Brustkorb hob und senkte sich, dennoch hatte ich nicht das Gefühl, dass ich atmete. Mein Leben schien unwirklich. Ich war unwirklich, so als würde ich nicht existierten. Meine Augenlider senkten sich in der Hoffnung, dass es bald vorbei sein würde, dass, das schnelle Klopfen, welches mir so Angst machte, vorüberzog. Dass der Druck, der sich mehr und mehr in meiner Brust ausbreitete, endlich verschwand. Dass die Hand, die sich um meinen Hals legte, lockerte und ich wieder atmen konnte. Mein Verstand schien kurz davor durchzudrehen. Ich schrie stumm vor Verzweiflung, mit dem Wissen, dass mich niemand hörte.

»Alles okay?«, seine Stimme war sanft und klang besorgt. Obwohl ich die Augen nicht öffnen wollte, tat ich es. Ich musste es. Ich musste ihn in Sicherheit wiegen. Ihm vermitteln, dass unser Leben perfekt war. Während ich die Augen öffnete, zwang ich mich wie die meiste Zeit in meinem Leben zu einem Lächeln. »Ja, Julian, es ist alles in Ordnung. Ich bin nur etwas müde, das ist alles!«

Sein prüfender Blick ließ mich nicht los. Er betrachtete mich lange, so als ob es ihm etwas verraten würde. Das tat er oft und allmählich fragte ich mich, ob er etwas ahnte. Manchmal wünschte ich es mir. Ich stellte es mir manchmal sogar vor. Mit viel Glück würde das ganze dann vielleicht ein Ende haben. Nach Sekunden ließ er den Blick von mir und sah wieder hinüber zu meiner Mutter. »Deine Tochter hat heute Nacht an der Hochzeitsmappe gearbeitet.«

In Gedanken verdrehte ich genervt die Augen. Er hatte meiner Mutter Gesprächsmaterial vor die Füße geworfen und ich wusste, jetzt würde es wieder losgehen. Doch ehe das passierte, musste ich meinen Zustand, der mich in letzter Zeit so oft übermannte, in den Griff bekommen. Abrupt schob ich meinen Stuhl zurück, erhob mich und bekam kurz die Aufmerksamkeit der beiden.

»Ich muss auf die Toilette«, log ich und machte mich auf zum Damenklo. Noch bevor einer von ihnen etwas sagen konnte. Sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, atmete ich tief ein und aus. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich frei. Frei von allem. Frei von Verpflichtungen. Von meiner Mutter. Von Julian und von meinem Leben. Ich hasste mein Leben so sehr. Ich wollte so sehr darin ausbrechen, doch den Mut dazu fand ich nicht. Normalerweise sollte ich glücklich sein. Ich besaß alles, was ein Mädchen in meinem Alter von fünfundzwanzig nur besitzen konnte. Ein überfülltes Bankkonto, ein Haus, mehrere Luxuskarren und einen Freund, der überaus attraktiv und noch viel reicher als ich war. Der vor zwei Monaten um meine Hand angehalten hatte und mir einen fetten Klunker verpasst hatte. Der mich auf Händen trug und mir jeden Wunsch von den Lippen ablas.

Wieso war ich nicht glücklich?

Wieso schnürte es mir so die Kehle zu, wenn ich nur daran dachte Julian zu heiraten?

Er war perfekt! Liebenswürdig, zuvorkommend und sehr attraktiv. Er war ehrgeizig, was seinen Job betraf, auch wenn unsere Beziehung dadurch manchmal etwas zu kurz kam, war er alles in allem ein perfekter netter Mann. Jedes Mädchen hätte sich ein Bein ausgerissen, um an meiner Stelle sein zu können. Doch ich war unglücklich und erstickte in einem Leben. Kopfschüttelnd ging ich in eine der Kabinen, klappte den Toilettendeckel herunter und setzte mich darauf. Ich kramte in meiner Tasche nach meinem Handy, scrollte zudem Namen herunter, dessen Stimme ich jetzt hören wollte und wartete auf ein Freizeichen. Als ich die jungenhafte Stimme meines Bruders am anderen Ende hörte, erwärmte sich mein Herz.

»Hey, kleine!«

Ich lächelte. »Hey Jake!«

»Hmm«, raunte er in den Hörer. »Was hat sie jetzt schon wieder gemacht?«

Noch breiter lächelnd, freute ich mich darüber, dass mein Bruder der einzige Mensch war, mit dem ich offen darüber reden konnte.

Meine Beine überschlagend, antwortete ich: »Ach nichts, sie freut sich nur, dass wir heiraten. Sie ist total aus dem Häuschen.«

Atme, wenn du kannstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt