•60 || „Mein schlauer und mutiger Lou."•

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Kapitel 60

„Mein schlauer und mutiger Lou.“

Ich holte tief Luft, bevor ich mich auf die Bank setzte, neben der wir die ganze Zeit gestanden hatten. Da ich nicht wusste, was jetzt kam, war es mir lieber, zu sitzen. Nicht dass ich noch einen ungewollten und wahrscheinlich nicht sehr grazilen Abgang in den Teich machte.

»Es tut mir so leid, dass ich dich da mit reingezogen habe«, begann Harry leise. Seine Stimme ging beinahe im Rauschen der seichten Wellen des Sees und dem Rascheln der Blätter an den Bäumen unter. Aber ich verstand jedes Wort, das er sprach. »Ich habe versucht, dich da rauszuhalten. D-deswegen habe ich dir oft so komische Antworten gegeben. Ich wollte einfach, dass du davon verschont bleibst. Ich habe diesen Teil von mir selbst und meinem Leben vor dir verheimlicht, weil… weil du so rein und liebenswürdig bist, so unschuldig. Du solltest nicht mit meiner Welt in Berührung kommen. M-mit dieser Welt, mit ihm. Ich wollte nie, dass du davon erfährst, a-aber ich war nicht stark genug, konnte dich nicht davor beschützen, obwohl ich mir nichts sehnlicher gewünscht habe.«

Während er sprach, so leise und gebrochen, spürte ich, wie sich mein Herz zusammenzog. In meinem Hals bildete sich ein Kloß. Das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können, erfüllte mich. Schweigend, weil ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte oder ob ich es überhaupt tun sollte, sah ich Harry an. Eine Träne kullerte seine Wange herunter, den Blick starr auf das Wasser vor uns gerichtet, als könnte er mich nicht ansehen.

Ich verübelte es ihm nicht. Wäre ich an seiner Stelle, wäre ich sicher schon längst ein heulendes Wrack. Ohne ein Wort zu sagen, streckte ich meine Hand aus und legte sie zu seiner, die auf seinem Oberschenkel ruhte. Hoffentlich gab ihm das ein wenig Kraft und signalisierte ihm, dass ich es ihm in keiner Weise übel nahm.

Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass er ehrlich mit mir gewesen wäre, statt mir einen wichtigen Teil seines Lebens zu verheimlichen. Aber letztendlich war es seine Entscheidung und, obwohl er sich dagegen entschieden hatte, mir davon zu erzählen, waren wir hier. Zwar hatten wir echt kranken Mist erlebt – er deutlich mehr als ich -, aber wir waren hier. Zusammen. Und wenn selbst das, was passiert ist, uns nicht trennen konnte, warum sollte es die Wahrheit jetzt tun?

Sanft drückte ich Harrys Hand. Ich hörte, wie er schluckte und einige Male tief Luft holte. Ich konnte mir vorstellen, dass es für ihn nicht leicht war, darüber zu sprechen.

»I-ich denke, es wäre am besten, wenn ich von vorne anfange, oder?« Für einen winzigen Augenblick sah er zu mir, bevor er wieder aufs Wasser schaute.

Ich räusperte mich. »Harry, du musst es mir jetzt nicht erzählen. Wir können auch warten, bis es dir besser geht und wir bei mir in der Wohnung sind.«

Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Nein, ich muss dir das jetzt erzählen. Ich weiß nicht… Ich weiß nicht, ob ich es sonst noch einmal schaffe, damit anzufangen. U-und ich will, dass du es weißt. Alles. Ich möchte dir nichts mehr verheimlichen. Lügen machen alles kaputt und ich will unbedingt, dass das zwischen uns funktioniert. Ich liebe dich, Louis. U-und ich hoffe, du wirst mich immer noch lieben, wenn du alles über mich weißt.«

»Okay«, sagte ich leise und streichelte mit meinem Daumen über seinen Handrücken. »Aber ich werde dich immer lieben, Haz. So schnell wirst du mich nicht los.«

Ein kleines Schmunzeln huschte über seine Lippen, dann seufzte er und rieb sich über die Augen. »Also, es hat eigentlich alles angefangen, als Mom Krebs bekommen hat. Sie kam ins Krankenhaus und ich war schon nicht mehr in England, sondern bereits in Rom. Da mein Vater sich nicht um sie gekümmert hat, habe ich Becky darum gebeten, dass sie mir alle Krankenakten und so zukommen lässt. Ich hatte vier ober fünf Minijobs gleichzeitig, um irgendwie die Therapiekosten stemmen zu können. Aber nach etwa einem halben Jahr konnte ich einfach nicht mehr. Die Jobs hielten mich rund um die Uhr auf Trab, aber es sprang nicht genug Geld dabei raus. Also habe ich wieder angefangen, zu malen, und versucht damit Geld zu machen. Das hat eher weniger gut funktioniert. Aber ich habe weitergemacht. Jeder Cent, den ich bekam, wanderte sofort an die Klinik, damit Mom weiter therapiert werden konnte.«

Paperplanes || l.s.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt