[Kai Havertz] Wer zuerst fällt

Kapitel 4

Wie soll ich eine vierstündige Autofahrt überleben ohne zu atmen?
Kai setzt sich gerade erst hin und stellt nur den Sitz ein, er muss den immerhin einen halben Kilometer nach hinten schieben, weil seine fucking Beine viel zu lang sind, und schon riecht mein ganzes geliebtes Auto nach Limette und Menthol.
Ich lege den Schlüssel auf die Ablage, drücke den Knopf, der Motor röhrt laut auf und ich öffne alle Fenster, weil ich lüften muss. Sonst sterbe ich. 

Kai sagt nichts, als ich mein iPhone verbinde, um Musik zu hören, meinen Motor auf dynamisch schalte, damit wir schneller fahren können und das Navi einstelle, damit ich den Weg finde, während ich losfahre. Wir sollten gegen 20:30 Uhr in Aachen ankommen. Also schaffe ich es bis 20:00, locker.

Kai würdigt mich keines Blickes, stattdessen schnappt er sich sein Handy und scrollt emotionslos durch seinen Instagramfeed.
Das wird die langweiligste und gleichzeitig anstrengendste Autofahrt meines Lebens. Wenn ich alleine fahre, führe ich meistens Telefonate oder höre Podcasts oder gebe ein Konzert. Wenn Kai neben mir sitzt kann ich nichts davon tun.
Ich mache meine Autofahrt-Playlist an. Ich schalte auf die Musik, von der ich weiß, dass Kai sie hasst. Sobald die Stimme von Henning May ertönt, schalte ich weiter. Er ignoriert mich noch immer.

Erst, als wir auf der Autobahn sind, legt Kai sein Handy weg. Seit wir im Auto sitzen, wechseln wir kein Wort miteinander. Es ist irgendwie unangenehm, gleichzeitig aber auch ein Fortschritt, weil wir nicht streiten.
Er legt seinen Kopf im Sitz zurück und schließt seine Augen. Ich hasse mich selbst dafür, dass ich instinktiv die Musik lauter drehe. Sofort öffnet er wieder die Augen und obwohl ich auf die Straße starre, spüre ich seinen Blick auf mir. Er sagt jedoch nichts, weshalb ich nun zu ihm sehe. Für den Bruchteil eines Moments kreuzen sich unsere Blicke, seine hellblauen Augen strahlen im Sonnenlicht, was ich sogar durch meine Sonnenbrille bemerke.
Er sagt trotzdem nichts, löst seinen Blick von mir, legt seinen Kopf zurück und schließt erneut die Augen. Diesmal reiße ich mich zusammen und mache die Musik nicht nochmal lauter.

Nach wenigen Minuten werfe ich einen weiteren Blick auf Kai. Seine Gesichtsmuskeln sind ungewöhnlich entspannt und sein Gesicht wirkt viel weicher als sonst. Er scheint beinahe friedlich. Er lächelt nicht im Schlaf, aber er schaut auch nicht mehr grimmig drein. Irgendwie mache ich die Musik leiser und lasse ihn in Ruhe schlafen.

Erst nach zwei Stunden auf der Autobahn werde auch ich müde. Kai schläft noch immer, aber da ich, nett wie ich bin, wirklich die ganze Zeit leise bin, ist mir unglaublich langweilig und ich werde schläfrig. Ich überlege, ob ich einen Stopp einlegen soll, um mir die Beine zu vertreten. Allerdings will ich auch diese ätzende Autofahrt nicht unnötig in die Länge ziehen.
Meine Entscheidung wird mir in dem Moment abgenommen, als mein Handy plötzlich klingelt. Es ist Henrik. Ich bin nicht schnell genug, um ihn wegdrücken, Kai ist sofort hellwach. Verwirrt und verschlafen, starrt er mich an.

„Sorry", sage ich. Wofür entschuldige ich mich? Dann nehme ich das Gespräch an. Kai weiß noch immer nicht, wie ihm geschieht, er legt seinen Kopf an die Seitenscheibe und starrt träge geradeaus.

„Minni?", grüßt mein Bruder.

„Henni", sage ich, um ihn zu ärgern. Im Augenwinkel bemerke ich ein schräges Kopfschütteln von Kai.

„Bist du im Auto?", fragt er.

„Ja", sage ich. Im Hintergrund raschelt es in der Leitung meines Bruders.

„Und du kommst wirklich nicht vorbei?", fragt er. Das ist also der Grund, weshalb er schon zum dritten Mal heute anruft. Ich habe ein paar Anrufe auf meiner Liste, bisher habe ich noch niemanden zurückgerufen.