Kapitel 12

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Die zweiten Spieltage der Gruppenphase sind noch anstrengender, als die ersten. Alle, die um uns herum arbeiten, sind schwer im Stress. Julian meint, in der K.O.-Phase wird es einfacher und obwohl wir schon den Platz im Achtelfinale sicher haben, sind wir gefühlt noch sehr weit davon entfernt.
Freiwillig stehe ich schon die ganze Woche gegen sechs Uhr morgens auf, hole mir aus der Küche eine Kanne Kaffee und setze mich dann an den Schreibtisch, zur Mittagszeit hole ich mir einen Snack aus der Küche und erst gegen Abend kann ich pünktlich zum Buffet Feierabend machen, nur um mir dann noch halbherzig Fußballspiele anzusehen, weil ich sowieso währenddessen einschlafe.
Diesen Vormittag habe ich eine Telefonkonferenz mit Arsenal, zeitgleich versuche ich so viele Mails wie möglich zu bearbeiten. Es ist ganz schön herausfordernd, auf Englisch zu telefonieren und auf Deutsch zu tippen. Meine Kanne Kaffee ist schon lange leer und trotzdem bemerke ich nicht, dass ich das Mittagessen verpasse. Nach der Konferenz muss ich mich nur noch mehr konzentrieren, denn jetzt jongliere ich mit Datenbanken und Tabellen vom DFB und Mails der UEFA.
Dadurch, dass ich immer alles auf einmal mache und es vor allem auch fehlerfrei kann, bin ich unglaublich effizient. Was vermutlich auch einer der Gründe für Julian war, mich in seinem Team zu wollen. Ich hab keine großartigen Talente, bin nicht außergewöhnlich intelligent und habe absolut gar keine Ambitionen, ich bin einfach nur hektisch und deshalb schnell.
Erst, als irgendwann mein Telefon klingelt, werde ich aus meinem Film gerissen. Ich hebe über meine AirPods ab, ohne mit dem Tippen aufzuhören.

„Ja?", frage ich.

„Ich bin's." Es ist Julian.

„Scheiße, hab' ich einen Termin vergessen?", frage ich, werfe einen Seitenblick auf die Uhrzeit. Es ist fünfzehn Uhr, ich erinnere mich an keinen Termin.

„Nein, nein, alles gut", sagt er und ich höre ihn leise lachen, „ich habe dich nur seit Tagen nicht gesehen und musste gerade an dich denken." Ich zucke mit den Schultern, was er nicht sehen kann.

„Haben uns wohl beim Essen immer verpasst", sage ich.

„Jaja, Romi, hast du mal aus dem Fenster geguckt?", fragt er. Natürlich, ich sitze direkt vor meiner Fensterfront, schon den ganzen Tag.

„Ja?", sage ich. „Und?"

„Es ist verdammt gutes Wetter. Mach den Laptop aus und geh mal raus, du Schneefrau!"
Ich lache sarkastisch auf.

„Erzähl das der Budgettabelle", sage ich.

„Es ist Freitagnachmittag. Du machst einen guten Job, mach mal Wochenende", sagt er. Er ist lustig, er muss sich mit dem Scheiß auch nicht beschäftigen, dafür hat er ja mich.

„Du hast gut Reden. Was heute und morgen liegen bleibt, muss ich Montag nur nachholen", sage ich und seufze leise. Julian lacht wieder.

„Wir wissen beide, dass du das auch am Montag locker schaffst." Kurz höre ich auf zu tippen und werfe einen sehnsüchtigen Blick in den Himmel nach draußen. Wann war ich das letzte Mal an der frischen Luft? Mein Blick wandert Richtung Trainingsgelände am Ende des Waldes. Ich sehe nicht gut genug, um zu erkennen, was die Jungs dort tun, aber ich sehe Schemen, die sich im Sonnenlicht bewegen.

„Vielleicht hast du Recht", sage ich nachdenklich.

„Natürlich habe ich Recht, ich bin der Boss", sagt er.

„Übertreib' nicht", widerspreche ich direkt. Julian kichert. Ich stelle mir vor, wie er dort hinten ganz entspannt vor den abgekämpften Jungs steht, seinen Kopf Richtung Sonne hält und sich seines Lebens erfreut. 

„Kommt dein Bruder eigentlich nach Frankfurt am Sonntag?", fragt er.

„Sorry, habe ich vergessen dir Bescheid zu sagen. Er schafft es nicht. Aber er wird nach Dortmund kommen zum Achtelfinale." Julian räuspert sich. Henrik rief irgendwann die letzte Woche an, weil seine schwangere Frau Jolene ins Krankenhaus musste. Nichts ernstes, aber das ist der Grund, weshalb sie nicht nach Frankfurt kommen können.

[Kai Havertz] Wer zuerst fälltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt