Mit zwei Francs in der Tasche erreichte Bleuciel Dubois am frühen Morgen eine kleine Stadt, in der ihn bisweilen noch niemand kannte. Der wolkenlose Himmel versprach derweil ein herrlicher Tag zu werden. Auf seinem Rücken trug Bleuciel einen Tragekorb, den man im Volksmund auch als Kiepe bezeichnete. Darin bewahrte er zwei kleine Töpfe auf, die ihn seit etlichen Jahren begleiteten und ihm als Vorwand dienten, ein Händler zu sein. Eine Lüge, die der Zwanzigjährige all die Zeit über aufrechterhalten konnte, ohne als Dieb bezichtigt worden zu sein. Das war es nämlich, was Bleuciel Dubois in Wahrheit verkörperte: einen Dieb, den das Schicksal zu solch einem geformt hatte.
Aufgewachsen war Bleuciel in einem kleinen Dorf, das nahe der Grenze zur Schweiz gelegen hatte. Dort hatten ausschließlich Schmuggler gelebt, die den begehrten britischen Stoff trotz der verhängten Kontinentalsperre über beschwerliche Pfade an die Schweiz weiterverkauft hatten. Ein lukratives Geschäft, von dem auch Bleuciels Eltern profitiert hatten, bis eines frühen Morgens Soldaten eingefallen waren, um jedes einzelne Gebäude niederzubrennen.
Obschon dieses Ereignis knapp zehn Jahre zurücklag, erinnerte sich Bleuciel noch genau an den Gestank von verbranntem Holz und Fleisch, ebenso wie an den erschütternden Klang der Schreie, der sich an jenem Tag in sein Gedächtnis gebrannt hatte. Binnen weniger Augenblicke war aus der vermeintlichen Ruhe ein heilloses Durcheinander entstanden, in dem die Gesetzlosen um ihr Leben gerannt waren, bis ein ohrenbetäubender Schuss dem selbigen ein jähes Ende bereitet hatte. Wer zunächst das Glück hatte, nicht erschossen worden zu sein, der fiel wenig später dem Bajonett anheim.
Auch Bleuciel wäre an diesem grausigen Morgen gestorben, hätte sich seine Mutter nicht wie eine wild gewordene Bestie auf den Soldaten gestürzt, um dessen Kehle in blinder Raserei zu zerbeißen. Mit einem schockierten Gesichtsausdruck war der Feind auf die Knie gefallen, wobei die Frau gnadenlos auf ihn eingeprügelt hatte. Ihr loderndes Wesen verdeutlichte, dass jedem, der es wagte ihr Kind zu berühren, dasselbe Schicksal widerfahren würde.
„Renn!", hatte sie ihrem verängstigten Sohn zugeschrien. „Und dreh dich nicht um!"
Durch die Stimme seiner Mutter war die Lähmung – welche die Panik zuvor ausgelöst hatte – augenblicklich verschwunden, weshalb der kleine Bleuciel unbemerkt fliehen konnte. Immer wieder hatte ihn seine Sorge zur Umkehr gedrängt, doch wog die strenge Anweisung seiner Mutter letztendlich schwerer.
Die darauffolgenden Jahre waren beschwerlich und voll von Kummer gewesen. Nicht selten hatte Bleuciel dem nahenden Tod ins Auge geblickt. Allein seine Mutter, die fortan in seinem Geiste lebte, hatte ihn vor der ewigen Dunkelheit bewahren können, weshalb er schließlich zu einem geschickten Dieb herangewachsen war.
Nur ungern dachte Dubois an die Vergangenheit, der es trotz seiner permanenten Durchreise hin und wieder gelang, ihn einzuholen und sein Gemüt zu beschweren. Ihretwegen war aus ihm ein recht schweigsamer Mann geworden. Darüber hinaus tat er sich im Umgang mit anderen Menschen relativ schwer, weil er die meiste Zeit über allein verbracht hatte und sich daher nur schlecht auf sie einlassen konnte, was sich anhand seiner Verunsicherung stets unter Beweis stellte.
Nach außen hin war Bleuciel nicht schlecht anzusehen. Er besaß schöne blaue Augen, denen er seinen Namen zu verdanken hatte und der sich wortwörtlich mit „blauer Himmel" übersetzen ließ. Zudem hatte der Dieb blondes Haar, das über die Jahre hinweg immer dunkler geworden war, sowie passable Zähne, die er allerdings nur selten erblicken ließ.
Er trug einen dunklen Gehrock, an dem eine Kapuze angebracht war, dazu passend ein dunkles Tuch um seinen Hals, welches er bei Bedarf über die Nase stülpen konnte. Das Messer, das er an seiner Hüfte mit sich führte, gebrauchte er für seine diebischen Machenschaften.
Hin und wieder brach Bleuciel auch in Häuser ein, um dortige Wertgegenstände zu stehlen. Diese bewahrte er unter den Töpfen in seiner Kiepe auf, bis er einen Ort fand, an dem er sie verkaufen konnte.
Der Pass, den Bleuciel Dubois bei sich trug, war gefälscht und verhalf ihm dabei, sich nicht von vornherein verdächtig zu machen. Auf diese Weise zog der Dieb von Stadt zu Stadt, um zu überleben und sich selbst zu bereichern.
Die Menschen seines jetzigen Aufenthaltsorts ahnten noch nicht, wer da soeben in ihr friedliches Städtchen vorgedrungen war. Wenn sie es wüssten, hätten sie ihn längst vertrieben. Für gewöhnlich wanderte Bleuciel ein wenig umher, um sich ein besseres Bild machen zu können. Dabei achtete er auf mögliche Wege und Verstecke, die ihm im Falle einer Flucht rasch dienlich sein mussten.
Einige der Bürger waren bereits wach, um ihren Pflichten nachzugehen. Mit skeptischen Blicken betrachteten sie Bleuciel, der dank seines Tragekorbs für einen harmlosen Händler gehalten wurden. Fast schien es so, als wären die Bewohner traurig darum. Bleuciel war niemand, über den sie tratschen konnten. Sie mochten sich über seine Erscheinung äußern, doch wirklich spektakulär war sein Auftreten bisweilen nicht. Mit einem Kind im Schlepptau oder gar einer auffallenden Wunde, hätte die Sache schon ganz anders ausgesehen. Sie in dieser Hinsicht enttäuschen zu müssen, kam Bleuciel gerade recht.
Eine kühle Brise, die dem Gesetzlosen für einen Moment entgegenschlug, ließ ihn frösteln. Der Herbst würde nicht mehr lang auf sich warten lassen und gewiss eine Menge Regen mit sich führen. Aus diesem Grund bevorzugte Bleuciel die warmen und vor allem trockenen Monate.
Er setzte seinen Weg durch das Städtchen fort, wobei die Töpfe in seinem Korb eifrig klimperten. Manchmal fragte er sich, ob sich diese gegen ihn verschworen hatten und ihn bewusst auffliegen lassen wollten. Womöglich hatten sie es satt, als Alibi herhalten zu müssen.
Sorgfältig ließ Bleuciel seinen geschulten Blick über die Haustüren schweifen, um mögliche Schwachstellen zu entdecken. Er gedachte, schon heute Nacht in eines dieser Häuser einzudringen, um seiner Kiepe ein paar weitere Gegenstände hinzufügen zu können.
„Guten Morgen, Monsieur", erklang plötzlich die Stimme eines Mannes, weshalb Bleuciel ungewollt zusammenzuckte.
„Morgen Monsieur", erwiderte er knapp, ohne weiter darauf eingehen zu wollen.
Es dabei zu belassen, kam für den anderen scheinbar nicht in Frage, denn unbehelligt fuhr dieser fort.
„Sie müssen neu hier sein. Was führt Sie in unsere Stadt? Wie lange gedenken Sie zu bleiben, Monsieur? Die Herberge ist nicht umsonst. Haben Sie Geld?"
Die Flut an Fragen drohte Bleuciel unter sich zu begraben. Er hatte weder die nötige Zeit, noch verspürte er die Lust, um sich der Neugier des Mannes entgegenzustellen. Demnach bestand Bleuciels einziges Interesse darin, sich die Pest schnellstmöglich vom Halse zu schaffen.
„Ich habe Geld", äußerte er im grimmigen Ton, woraufhin der Mann mit ausgestreckten Armen auf ihn zusteuerte.
„Das ist wahrlich schön zu hören, Monsieur."
Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich in Sekunden. Flink zückte Dubois sein Messer, ohne sich die Handlung anmerken zu lassen. Nur widerwillig ließ er den Fremden an sich heran, der jetzt mit einer Hand auf seine Schulter klopfte. Während dies geschah, nutzte Bleuciel die Gelegenheit, um die Schnur der Börse zu durchtrennen und den Mann seines Geldes zu berauben. Selbst schuld, fuhr es ihm zwischenzeitlich durch den Kopf. Was erlaubte sich dieser auch, ihm derart auf die Pelle zu rücken?
„Dann wünsche ich Ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt", sagte der Mann, der jetzt so schnell verschwand, wie er gekommen war.
Einen Augenblick lang sah Bleuciel ihm nach. Anschließend widmete er sich der Beute, die er soeben errungen hatte. Enttäuscht fand der Dieb gerade mal dreißig Sous darin vor. Besser als nichts, dachte Bleuciel, als er diese in seine eigene Börse stecken wollte. Das darauffolgende Entsetzen ließ nicht lange auf sich warten. Erstaunt fasste sich der Mann an die Stelle, an der zuvor noch seine Börse gehangen hatte.
Man hatte ihn bestohlen! War das denn überhaupt möglich? Zwei Diebe, die sich gegenseitig beraubt hatten, wobei Bleuciel Dubois eindeutig den Kürzeren gezogen hatte.
„Merde!"
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Le cour volé
Short StorySchon als Kind war Bleuciel auf sich allein gestellt, weshalb ihn die Not zu einem Dieb heranwachsen ließ. Als nunmehr 20-jähriger bestimmen Misstrauen und soziale Unbeholfenheit über sein Leben. Auf seinen Beutezügen durch Frankreichs Städte des 19...