Der geheimnisvolle Raum - der sich erwartungsgemäß als Schlafzimmer offenbarte - besaß ein Fenster, durch das der Mondschein ungehindert hineingelangen konnte. Dadurch bot sich Bleuciel ein ausreichender Blick auf dessen Innenleben. Neben einer Kommode, befand sich darin noch ein Bett, auf dem sich für Bleuciel etwas Schockierendes befand.
Wie eine Klinge bohrte sich die Erkenntnis in seine Brust. Sie erschwerte dem Dieb die Atmung und ließ sein Herz sich auf schmerzhafte Art zusammenziehen. Mit einem gefühlten Knoten im Bauch, betrachtete Bleuciel die Schrecken, die sich in Form einer Uniform, einer Pistole und einem Säbel manifestiert hatten.
Plötzlich geschah etwas, wogegen sich Bleuciel nicht mehr zur Wehr setzen konnte. Sein Verstand zerbrach unter der Last eines vergessen geglaubten Traumas und erweckte dieses, anhand von Hirngespinsten, zu völlig neuem Leben.
Wie eine heranrollende Welle platzten die Holzdielen unter seinen Füßen auf, um einer zertrampelten, teils von Blut bespritzten Wiese weichen zu können. Darüber hinaus zog dichter Qualm aus jeder Ecke des Raums, um den Gestank von verbranntem Holz und Fleisch mit sich zu führen. Die grausigen Eindrücke versetzten Bleuciel an denselben Ort, an dem er vor gut zehn Jahren schon einmal gestanden hatte.
Er vernahm die Schüsse und das Geschrei, als wären sie gerade präsent. Obwohl Bleuciel kein Kind mehr war, verhielt er sich wie eines, indem er verzweifelt an dem Saum seines Oberteils zupfte und sich, der Angst wegen, nicht von der Stelle rührte.
Wie aus dem Nichts erschien nun auch seine verstorbene Mutter, die noch dasselbe lodernde Wesen besaß und bereit war, sich ein weiteres Mal für ihr heißgeliebtes Kind zu opfern.
„Mutter", schluchzte Bleuciel, der sich geistig im Dorf befand, in Wahrheit jedoch alleine im Schlafzimmer stand. „Lass mich nicht wieder allein."
Die Mutter aber ignorierte das herzzerreißende Flehen ihres Sohnes. Stattdessen schrie sie ihm dieselben Worte mit der gleichen Strenge wie damals zu. „Renn! Und dreh dich nicht um!"
Der Klang ihrer Stimme stieß Bleuciel in die wahre Welt zurück. Er rang nach Luft und fasste sich an die Brust. Die Auswirkungen des Schocks versetzten seinen Körper in ein permanentes Zittern. Ohne es zu bemerken, waren ihm Tränen über die Wangen geflossen.
Alexandre Morel. Ein Mysterium, das nun keines mehr war. Das Geheimnis um ihn war gelüftet. Bleuciel aber wünschte, dass er niemals davon erfahren hätte. Mit der Erkenntnis starb auch die Zuneigung für diesen Mann. An seiner statt empfand Bleuciel nur noch pure Verachtung. Morel war ein widerwärtiger Verräter, der ihn beschmutzt und hintergangen hatte. Sich auf ihn eingelassen zu haben, war ein Fehler, den Bleuciel nie wieder ungeschehen machen konnte.
Sich darüber im Klaren zu werden, sorgte für einen weiteren Schlag, der den Dieb fast in die Knie zwang. Von Schwindel übermannt, fasste er sich an die Stirn. Er taumelte durch den spärlich beleuchteten Raum, als plötzlich eine gedämpfte Stimme ertönte und ihn vor Schreck zusammenfahren ließ.
„Bleuciel?"
Die Erwähnung seines Namens brachte den selbigen dazu, sich Hals über Kopf an das Fenster zu stürzen. Hierfür musste Bleuciel auf das Bett steigen. Er fühlte den Stoff der Uniform unter den Knien, was einen regelrechten Anfall zur Folge hatte. Wütend zerrte er an ihr herum, bevor er das verhasste Kleidungsstück hinter sich durch den Raum feuerte. Danach fummelte er mit zittrigen Fingern an dem verkeilten Fenster, um es zu öffnen.
Während er das tat, vernahm er die Schritte von Morel, die sich ihm auf bedrohliche Weise näherten. Wie ein durchgedrehtes Tier rüttelte Bleuciel an den hölzernen Rahmen, wobei ein kleines Stück davon absplitterte und sich ihm geradewegs in den rechten Zeigefinger bohrte. Der Schmerz hielt Bleuciel nicht davon ab, weiterzumachen. Endlich gelang es diesem, das Fenster zur ersehnten Außenwelt zu öffnen. Trotz weiterer Schmerzen, quetschte er sich hektisch hindurch, um von dort auf den steinigen Boden des Hinterhofs zu springen.
Kurz darauf erblickte er einen Zaun, hinter dem ein großer Hund lauerte. Dessen Gebell ließ Bleuciel vor Schreck aufschreien und einen Satz nach hinten vollführen. Ungeschickt stolperte er über die eigenen Füße, sodass er mit dem Rücken ungebremst gegen die Hauswand knallte. Auch davon ließ sich der Dieb in seiner panischen Reaktion nicht beirren. Er wandte sich zur Seite, um dem Hinterhof durch eine Gasse hinweg zu entfliehen.
In Sturzbächen lief Bleuciel der Schweiß über die Stirn. Dieser brannte ihm in den Augen, weshalb er sich mit dem Ärmel mehrmals über das Gesicht wischte. Er erreichte die Front des Hauses, wo er zugleich fürchtete, dass Morel jeden Moment durch die Eingangstür marschieren könnte. Eine Gefahr, die vermieden werden musste, egal zu welchem Preis.
„He da!", rief plötzlich ein Mann.
Im ersten Moment glaubte Bleuciel, dass Morel der Verursacher war. Ein kurzer Blick zur Tür verneinte den Verdacht allerdings. Erst bei weiterer Betrachtung seiner Umgebung, bemerkte Bleuciel einen hageren jungen Burschen, der auffallend umhertorkelte. Vermutlich hatte sich dieser bis vor kurzem in einer Taverne aufgehalten. Da für Bleuciel die Zeit drängte, konnte er sich nicht länger damit befassen. Er entschied den Betrunkenen zu ignorieren, was dieser - zum Leidwesen von Bleuciel - jedoch nicht zulassen wollte.
„He da", wiederholte er, wobei er seinen Arm um den Nacken des Diebes schlang. „Ich sehe Sie hier zum ersten Mal. Suchen Sie nach einer Taverne?" Sein Atem stank nach billigem Wein.
„Nichts dergleichen", grummelte Bleuciel bei dem kläglichen Versuch, sich zu befreien. Für einen betrunkenen Jungspund besaß dieser erstaunlich viel Kraft. „Ich bin in Eile, Monsieur."
„Aber, aber!", widersprach der Störenfried entzückt. „Was kann um die Zeit noch so dringend sein?"
Die Neugier darauf ließ den aufdringlichen Mann noch hartnäckiger werden. Bleuciel spürte indes das Pochen seiner Halsschlagader. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis Morel hier draußen erschien, worauf es der Flüchtende unter gar keinen Umständen ankommen lassen wollte. Die prekäre Situation zwang Bleuciel zu einer groben Vorgehensweise, weswegen er den arglosen Mann von sich stieß.
„He!", beschwerte sich dieser, wobei sich dessen Zorn schnell wieder verflüchtigte. „Sie sollten trinken, Monsieur! Danach geht es besser!"
Schnell versuchte Bleuciel ihm auszuweichen, doch der Mann stellte sich ihm gnadenlos in den Weg. Es war zum Verrücktwerden. Man könnte fast meinen, dass ihm das Glück den Rücken zugewandt hatte. Dabei wünschte sich Bleuciel nichts sehnlicher, als endlich von hier zu verschwinden. Weit weg von Morel und den Dingen, die sich innerhalb dieser Stadt zugetragen hatten. War das denn wirklich zu viel verlangt? Nach allem, was er durchgemacht hatte?
Das Knarzen einer Tür trieb den Dieb schließlich zu einer unmoralischen Entscheidung. Aus seiner geballten Faust sprach die pure Verzweiflung. Trotz der vorhandenen Bedenken, schlug er dem Betrunkenen ins Gesicht, sodass dieser mit einem schmerzhaften Stöhnen nach hinten fiel. Das Geräusch, welches der Körper beim Aufprall auf den gepflasterten Weg verursachte, löste bei Bleuciel weiteren Angstschweiß aus. Er ließ den armen Tropf am Boden liegen und rannte davon.
Obschon seine Beine schmerzten und die Lungen zu bersten drohten, hielt Bleuciel nicht eine Sekunde lang an. Die Angst vor dem Soldaten erlaubte keine Atempause. Japsend hechtete er aus der Stadt, um zu dem Busch mitsamt seiner Kiepe zu gelangen. Zumindest die hatte keinerlei Schaden erlitten. Etwas, das man von Bleuciel nicht behaupten konnte. Er schnappte sich den Korb, lud diesen auf seinen Rücken und eilte weiter, ohne nach hinten zu sehen.
Wie weit es bis zur nächsten Stadt war und was den Dieb dort erwarten würde, konnte er nicht wissen, aber alles war besser, als noch länger in der Nähe von Morel zu verweilen.
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Le cour volé
Short StorySchon als Kind war Bleuciel auf sich allein gestellt, weshalb ihn die Not zu einem Dieb heranwachsen ließ. Als nunmehr 20-jähriger bestimmen Misstrauen und soziale Unbeholfenheit über sein Leben. Auf seinen Beutezügen durch Frankreichs Städte des 19...