Perceval de Rouyer

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Der beste Schlaf, den man führen kann, ist ein solcher, der aus der puren Erschöpfung entsteht. Binnen Sekunden wird man von ihm vereinnahmt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Anschließend schläft man so fest, dass einen nicht mal ein Erdbeben zu wecken vermag.

Dieser Art von Schlummer war auch Bleuciel zum Opfer gefallen. Nicht mal die Sonnenstrahlen brachten es fertig, ihn daraus zu befreien. Erst als Körper und Geist hinreichend geruht hatten, öffnete Bleuciel seine Augen, wobei er geradewegs in das Gesicht eines unbekannten Mannes blickte.

Seinem erschrockenen Schrei folgte ein weiterer, den nun der Fremde von sich stieß.

„Welch gewaltiges Erwachen, Monsieur", sprach dieser mit heller Stimme. In seinen Händen trug der Mann eine Art Holzbrett mitsamt Bleistift und Papier. „Um ein Haar hätte ich Ihrer Zeichnung einen unschönen Querstrich verpasst." Kopfschüttelnd kratzte er sich am Hinterkopf. „Bedauerlicherweise ist mein Werk noch nicht vollendet, Monsieur. Ob ich es mir anmaßen dürfte, Sie zu einem weiteren Nickerchen zu ermutigen? Damit würden Sie mir unsagbar viel Freude bereiten. Ja, ja, seien Sie sich dessen gewiss."

In den ersten Sekunden des Erwachens ist niemand sonderlich aufnahmefähig. Dasselbe galt auch für Bleuciel, weshalb die Informationen nur langsam zu ihm hindurchsickerten. Mit Mühe betrachtete er den Mann, der schon am Morgen voller Tatendrang zu stecken schien.

Es fiel auf, dass der Fremde edelste Kleidung trug. Mitunter ein reinweißes Leinenhemd mit hohem Kragen, welches nach vorne hin mit einer Schleife abgerundet wurde, zudem eine dunkelgrüne Weste mit goldenen, fein gearbeiteten Knöpfen. Der hellbraune Gehrock bestand aus hochwertigem Material und schmiegte sich nahezu perfekt an den wohlgeformten Körper des Mannes. Vollendet wurde die Erscheinung mit einer beigen Reiterhose, die keinerlei Makel aufwies, sowie dunkelbraunen Reiterstiefeln, die jemand auf Hochglanz poliert hatte und die an den Außenseiten hübsche Riemen besaß.

Nach Betrachtung des Outfits, wandte sich Bleuciel dem Gesicht des Mannes zu. Das auffälligste an ihm waren die leuchtend grünen Augen, die dank der dunklen Brauen noch kräftiger zur Geltung kamen. Sie spiegelten den aufgeweckten Charakter wider und schmeichelten dem bräunlichen Teint. Die kurzen, jedoch gepflegten Bartstoppeln, die Kinn- und Oberlippenpartie schmückten, ließen auf ein rebellisches Herz schließen. Zu guter Letzt bestaunte Bleuciel das wellige braune Haar, das ihrem Besitzer eine chaotische, doch fast schon liebenswerte Note verlieh.

„Wer sind Sie, Monsieur?", äußerte Bleuciel noch im Halbschlaf.

„Das wissen Sie nicht?", fragte sein Gegenüber erstaunt. „Ich nahm an, dass Sie einer unserer Bediensteten seien. Was sollte Sie sonst dazu verleiten, sich auf dem Grundstück meines Vaters herumzutreiben?" Dabei ließ er seinen Blick über Bleuciels Kleidung schweifen. „Verzeihen Sie meine unpässliche Bemerkung, Monsieur, doch scheinen Sie kein werter Gast meines Vaters zu sein." Schmunzelnd neigte der Mann seinen Kopf. „Für einen solchen fehlt Ihnen die unbeugsame Miene und der Stock, der im Gesäß feststeckt." Es ertönte ein kurzes Gelächter. „Verzeiht", prustete er. „Ich konnte diesen Menschen noch nie sonderlich viel abgewinnen." Dabei wischte er sich eine imaginäre Träne aus dem Gesicht. „Mein Name ist Perceval de Rouyer. Ich betitele mich selbst gern als ungezügelten und talentierten Künstler." Er verbeugte sich vor Bleuciel und fuhr unbekümmert fort. „Wie gut ich bin, hätte ich Ihnen gerne anhand meiner Zeichnung offenbart. Beklagenswerter Weise sind Sie zu vorschnell erwacht, Monsieur. Wenn Sie erlauben, würde ich bei Zeiten gern ein neues Porträt von Ihnen anfertigen. Sie haben nämlich bezaubernde blaue Augen. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?"

Wenn sich etwas mit Sicherheit sagen ließ, dann war es die Tatsache, dass Bleuciel aus Erstaunen und Verwunderung nicht mehr herausfand. Er fühlte sich geplättet und wusste nicht, wie er reagieren, geschweige denn, worauf er antworten sollte. De Rouyers lebhafte Art riss ihn mit, wie es die tosende Welle mit einem Kiesel tat. Somit verfiel der Dieb in ein ungewolltes Schweigen, von dem sich de Rouyer aber keineswegs irritieren ließ.

„Sofern Sie nicht den Genuss von Heu bevorzugen, würde ich Sie gern für ein ausgiebiges Frühstück begeistern, Monsieur." Dabei legte de Rouyer sein Zeichenbrett auf den Boden.

Bleuciel aber widersprach: „Nicht nötig, Monsieur. Ich sollte jetzt lieber ..."

„Sie scheinen mir ein wenig mager zu sein", plapperte de Rouyer sorglos weiter. „Wann haben Sie das letzte Mal gespeist?"

„Es ist mir ernst", beharrte Bleuciel. „Ich ..."

„Na los, ich helfe Ihnen auf."

Ehe Bleuciel sich versah, spürte er schon die Hand des Mannes an seinem Unterarm. Mit Schwung half ihm dieser auf die Beine, sodass sie beinahe zusammenstießen. Als ihm daraufhin ein leicht blumiger Duft entgegenkam, schämte sich Bleuciel für seinen mangelnden Hygienezustand. Dank der langen und anstrengenden Reise, hatte er mehrmals geschwitzt. Es lag somit nahe, dass sein Aroma alles andere, als liebreizend war. Da de Rouyer deswegen keine Reaktion zeigte, blieb nur zu hoffen, dass dessen Geruchssinn momentan außer Gefecht gesetzt war.

„Dürfte ich Sie nach Ihrem werten Namen fragen, Monsieur?", begann de Rouyer ein erneutes Gespräch.

„Mein Name ist Bleuciel Dubois. Ich bin Händler. Daher sollte ich jetzt ..."

„Dann gehört der Korb also zu Ihnen?", fragte der Adelige, woraufhin der Dieb seufzte und ein sanftes Nicken von sich gab. „Nun gut. Lassen Sie den ruhig hier stehen. Für das Frühstück brauchen Sie ihn nicht. Ach ja und was meinen lieben Herr Vater betrifft, so ignorieren Sie sein ständiges Gezeter. Seit Mutter vor drei Jahren verschieden ist, plagt ihn die chronische Nörgelsucht. Man gewöhnt sich daran."

„Dann werden Sie nicht die Polizei verständigen, Monsieur?", wagte Bleuciel in Erfahrung zu bringen. Sein Begleiter ließ ihn ja ohnehin nicht gehen.

„Wünschen Sie denn, gemeinsam mit den Gendarmen zu speisen?", entgegnete de Rouyer mit gerunzelter Stirn.

Das wäre mitunter das Letzte, was Bleuciel zu beabsichtigen täte. Ihm war nicht bewusst, ob de Rouyers Aussage ernster Natur galt. Somit riskierte er eine weitere Bemerkung.

„Obwohl das nicht in meiner Absicht lag, habe ich zu Unrecht auf Ihrem Grundstück genächtigt, Monsieur. Ich möchte mich dafür bei Ihnen entschuldigen."

„Nicht doch", flötete de Rouyer gut gelaunt. „Ich bin es, der sich bei Ihnen entschuldigen sollte. Wäre ich gestern Abend aufmerksamer gewesen, hätte ich Sie gesehen und Ihnen ein Bett in unserem Chateau angeboten. Mir bleibt nur zu hoffen, dass das Frühstück über diesen Fauxpas hinwegblicken lässt, Monsieur."

Das offenherzige Entgegenkommen versetzte Bleuciel ein weiteres Mal in pures Staunen. Ihm war es ohnehin ein Rätsel, weshalb sich ein Adeliger mit ihm befasste, ohne dabei die Nase zu rümpfen oder ihn fortwährend mit verächtlichen Blicken zu strafen.

Ein Feudaler, wie Bleuciel sie kannte, hätte nicht davor zurückgeschreckt, ihn an die Gendarmarie zu übergeben. Man hätte den schlafenden Eindringling aus dem Stall gezerrt, um ihn Dingfest zu machen. De Rouyer hingegen, hatte sich dazu entschieden, ein Bild von Bleuciel zu malen und ihn zum Frühstück einzuladen.

Nach seinen Begegnungen mit Alexandre Morel und Fernand Dalle, bot die Begegnung mit Perceval de Rouyer eine erfrischende Abwechslung. Somit ließ sich Bleuciel vorerst darauf ein.

Le cour voléWo Geschichten leben. Entdecke jetzt