Schnell schob Perceval die Tür weiter auf, um das Rot in seiner Gänze zu enthüllen. Jegliche Restzweifel, die ihn bis dahin noch begleitet hatten, zogen sich nun stillschweigend zurück. Übrigblieb ein Mann, der seinen Fund trotz der markanten Erscheinung für ein Hirngespinst hielt. Er bückte sich danach, um es anzufassen. Spätestens dann – so glaubte er – würde sich die Sache buchstäblich in Luft auflösen. Zu seinem Bedauern geschah nichts dergleichen. Vielmehr sorgte der physikalische Kontakt für einen erneuten Schrecken, der Perceval unweigerlich zusammenzucken ließ.
Es noch weiter verleugnen zu wollen, wäre töricht. Das Kleidungsstück in Percevals Händen war so real, wie die Angst, die mit dessen Auffindung einherging. Etliche Fragen geisterten jetzt durch seinen Kopf. Wo war dessen Besitzer? Was war mit ihm geschehen? Weshalb war die Kleidung so dreckig? Und wieso hatte man Perceval nicht darüber informiert?
Schweratmend ließ er den Gehrock durch seine zittrigen Hände gleiten. Wenn er dabei nun auf Blut stoßen würde? Eine Horrorvorstellung, die den Zweiundzwanzigjährigen fast in den Wahnsinn trieb. Er griff in sämtliche Taschen, ohne einen Hinweis darauf zu finden, was mit Bleuciel geschehen sein könnte. Wenig später bemerkte Perceval auch den Rest der Kleidung, die wahllos auf dem Boden lag. Wäre die Situation nicht so gravierend, hätte er durchaus Gefallen an der Vorstellung eines nackten Bleuciels gefunden.
Mit den neuen Erkenntnissen geriet Percevals Plan unweigerlich ins Stocken. Bedeutete die Kleidung nicht auch, dass Bleuciel zwangsläufig hier sein müsste? Unmöglich, dachte er. In dem Fall wären sich die beiden schon längst über den Weg gelaufen. Vielleicht beruhte das Ganze auf einem perfiden Plan seines Vaters, um Perceval in die Verwirrung zu stürzen. Mittlerweile traute er diesem Mann so einiges zu.
Mit einem unguten Gefühl im Bauch legte er den Gehrock zurück auf den Boden, bevor er sich zu dem Dienstbotenausgang begab. Dabei fummelten seine Finger an den Trägern des Tornisters herum. Lediglich ein letzter Schritt war von Nöten, um das Chateau ein für allemal hinter sich zu lassen. Die Frage war bloß, ob er nicht doch auf Nummer sicher gehen sollte. Nur für den Fall, dass sich Bleuciel aus unerfindlichen Gründen in diesen vier Wänden aufhielt. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Perceval seine Entscheidung traf.
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Einen Moment lang verweilte Bleuciel in dem Zimmer, ohne sich zu bewegen. Er kam sich wie ein Eindringling vor, was er streng genommen ja auch war. Percevals Fehlen begründete der Dieb damit, dass dieser noch irgendwelchen Pflichten nachzugehen hatte. Ein kläglicher Versuch, mit dem er sein Gewissen zu beruhigen versuchte. In Wahrheit saß Dubois auf heißen Kohlen. Fortlaufend ertappte er sich dabei, wie sein Blick zur Tür hinüberwanderte. Man könnte meinen, dass er Angst davor hatte, Percevals Rückkehr zu verpassen.
Als die Warterei unerträglich zu werden drohte, lenkte sich Bleuciel mit den umherliegenden Bildern ab. Sie zu betrachten half nur bedingt. Obwohl er seine Augen stur darauf ausrichtete, nahm er deren Motive kaum wahr. Vielmehr interessierte ihn jedes noch so sanfte Geräusch, das auf die bevorstehende Ankunft von Perceval hindeuten könnte.
Im Verlauf weiterer Minuten verhärtete sich der Verdacht, dass Perceval nicht mehr zurückkehren würde. Womöglich verweilte dieser auf einem anderen Chateau, um sich mit Gleichgesinnten zu unterhalten. Bleuciel hatte bloß als Randfigur einer Geschichte fungiert, für die der Adelige jetzt keine Verwendung mehr fand.
Ähnlich verhält es sich mit Kindern und ihren neuen Spielsachen. Diese sind zu Beginn so epochal, dass man sie kaum aus der Hand zu legen vermag. Jeder Funktion muss akribisch auf den Grund gegangen werden, um sich keines Versäumnisses schuldig zu machen. Sind die Möglichkeiten hingegen erschöpft, verliert das heilig geglaubte Spielzeug an Reiz. Man schleudert es in die nächstvorhandene Ecke, wo es keines weiteren Blickes mehr gewürdigt wird. Ein grausiges Schicksal, das auch Bleuciel zu erwarten fürchtete.
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Le cour volé
Kısa HikayeSchon als Kind war Bleuciel auf sich allein gestellt, weshalb ihn die Not zu einem Dieb heranwachsen ließ. Als nunmehr 20-jähriger bestimmen Misstrauen und soziale Unbeholfenheit über sein Leben. Auf seinen Beutezügen durch Frankreichs Städte des 19...