Es war spät am Vormittag, als Bleuciel und Perceval nach draußen marschierten. Vereinzelte weiße Wolken zogen gemächlich durch den Himmel, wobei sie es verstanden, der Sonne geschickt aus dem Weg zu gehen. Dadurch herrschten bisweilen angenehme Temperaturen, die nur der Wind hin und wieder zu mäßigen wusste.
Percevals Gang war von federleichten Schritten geprägt, die den Dieb dazu verleiteten, unentwegt dabei zuzusehen. Beinahe wirkte es so, als würde der Adelige mit seiner Umgebung verschmelzen. Die gelegentlichen Windbrisen schienen den Künstler an ihren Bestimmungsort zu tragen. In diesem Moment dachte Bleuciel an einen Vogel, dessen Gefieder erst außerhalb des Käfigs zu glänzen begann.
Da sie etwas versetzt liefen, fuhr Perceval mit einer eleganten Halbdrehung zu ihm herum. „Es gibt immer zwei Pferde, die schon gesattelt sind. Für den Fall, dass mal Eile geboten sein sollte", erklärte er im Rückwärtsschritt, ohne an Tempo zu verlieren. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schenkte dem Dieb ein aufrichtiges Lächeln. „Das erspart uns ein wenig Zeit, Monsieur."
Dubois mochte das natürliche Lächeln des Mannes. Es besaß die seltene Gabe, dass einem während des Anblicks warm ums Herz wurde. Einmal in den Genuss gekommen, sehnte man sich fortlaufend nach mehr.
Einen Moment, den Bleuciel durchaus genossen hätte, gäbe es da nicht dieses Problem ...
„Ist alles in Ordnung, Monsieur?", fragte Perceval, als erahnte dieser den inneren Konflikt. „Sie wirken auf mich ein wenig betrübt." Leichte Verunsicherung machte sich breit. „Gedenken Sie, Ihre Entscheidung zu widerrufen?"
„Nichts dergleichen, Monsieur", versicherte Bleuciel, um die Besorgnis seines Begleiters im Keim zu ersticken.
„Zögern Sie nicht, mich anzusprechen, sollte Ihnen irgendetwas Kummer bereiten, Monsieur", entgegnete Perceval. „Es ist mir bisweilen immer gelungen, jedes Problem aus der Welt zu schaffen." Es folgte ein weiteres Lächeln, bevor er sich wieder in Laufrichtung wandte.
Obschon Bleuciel das Entgegenkommen durchaus zu schätzen wusste, fragte er sich, was Perceval in Fällen des eigenen Leids unternahm. Wer lieh dem Adeligen in solchen Momenten ein offenes Gehör? Wer versorgte sein verwundetes Herz und spendete seiner Seele den nötigen Trost? Wer war diese Person? Existierte sie überhaupt? War Perceval womöglich noch auf der Suche nach ihr?
Das Wiehern eines Pferdes riss Dubois aus den Gedanken. Er war erstaunt, wie schnell sie den Stall trotz normalen Schrittes erreicht hatten. Es machte den Anschein, als beanspruchten seine permanenten Grübeleien immer mehr Zeit. Vielleicht entsprang diese Tatsache aber auch bloß der reinen Fantasie. Dinge, vor denen man sich zu drücken versucht, kommen immer schneller, als erhofft. Eine Erfahrung, die nun auch Bleuciel durchleiden musste.
„Warten Sie kurz", sagte Perceval. „Ich hole Ihr Pferd."
Bei Erwähnung des Pferdes musste Bleuciel unweigerlich schlucken. Bedauerlicherweise hatte sich sein Problem auf dem Weg hierher nicht in Luft aufgelöst. Es war so präsent, wie der gegenwärtige Gestank von Pferdemist. Die Lage spitzte sich zu, als Perceval das Tier aus dem Stall geleitete, da sich erst jetzt dessen wahre Natur offenbarte.
Das braune Pferd war von schlanker und überaus großer Statur, sodass Bleuciels Kopf gerade mal bis an die Schulter reichte. Verzweifelt blickte der Dieb zu dem Sattel, der für ihn in ungreifbarer Entfernung lag. Wie zum Teufel sollte es ihm gelingen, dieses gewaltige Ross zu besteigen, ohne sich dabei das Genick zu brechen? Im Geiste sah sich Bleuciel schon tot am Boden liegen, mit verdrehten Gliedmaßen und einem zertrampelten Kopf. Gewiss kein schöner Anblick für Perceval, der seinen zermatschten Körper zu Grabe tragen müsste, sofern man Bleuciel nicht in die nächstbeste Grube werfen würde ...
„Worauf warten Sie, Monsieur?", fragte Perceval, während er dem Tier locker auf den Schenkel klopfte.
„R-Reizen Sie es nicht unnötig", stammelte Dubois, dem schon die ersten Schweißperlen auf die Stirn traten.
Verwirrt und amüsiert zugleich neigte der Adelige den Kopf. „Wovon sprechen Sie, Monsieur? Monique hier besitzt einen ruhigen Geist. Sie ist sehr leicht zu reiten."
Den Gedanken ans Reiten hatte Bleuciel noch gar nicht erreicht. Vielmehr beschäftigte ihn noch immer die Frage, wie er sich auf den Rücken des monströsen Viehs befördern sollte. Er glaubte sich zu entsinnen, sowas schon bei anderen beobachtet zu haben. Man platzierte seinen Fuß auf dem Steigbügel und schwang sich hinauf. Mehr schien im Grunde nicht dahinterzustecken.
Als ihm die zunehmende Unruhe bei Perceval auffiel, wagte Bleuciel einen Versuch. Er näherte sich dem Tier, um seinen Fuß gen Steigbügel zu strecken. Nachdem ihm das mehr oder minder gelungen war, versuchte er seinen Körper mit Kraft nach oben zu drücken.
Unglücklicherweise wusste Bleuciel nicht, wie und wo er sich festhalten musste, um das geplante Vorhaben zu vollenden. Wahllos schnappte er nach dem Erstbesten, was er zu fassen bekam, weswegen die anmutige Monique geradewegs drauf los trabte.
Die dadurch entstandene Wucht warf den Dieb wieder zurück. Er landete mit dem Rücken hart auf dem Boden, wobei sich sein Fuß am Steigbügel verfing. Keine Sekunde später, schleifte ihn die erbarmungslose Monique quer über den Platz.
Perceval, der die Szene mit großen Augen beobachtet hatte, rannte jetzt zu dem Pferd, um es schnellstmöglich zum Anhalten zu bewegen. Er fasste die Zügel und sprach sanft auf das Tier ein. Als sich Monique wieder beruhigt hatte, befreite Perceval den Fuß, der auf wundersame Weise keinen größeren Schaden davongetragen hatte.
Nachdem der erste Schockmoment überwunden war, konnte sich der Adelige sein herzhaftes Lachen nicht mehr verkneifen. Er warf sich neben Bleuciel auf die Knie und schüttelte den Kopf.
„T-Tut mir leid, Monsieur", prustete er. „Doch diese Szene war einfach zu niedlich, um wahr zu sein." Immer noch lachend strich er dem Dieb mit beiden Daumen über die Wangen. „Sie sind völlig verstaubt, Monsieur. Und Ihre Klamotten ..." Das Lachen gewann an Intensität. Perceval war gezwungen sich nach hinten zu lehnen, um sich mit einer Hand an den schmerzenden Bauch zu fassen. Die andere nutzte er, um sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. „M-Mich dünkt, als strebten ...", gluckste er. „Als strebten Sie einen erneuten Kleidungswechsel an, Monsieur!"
Regungslos verharrte Bleuciel auf dem Rücken. Er war sich noch nicht ganz im Klaren darüber, ob er weinen oder ebenfalls lachen sollte. Sein Herz schlug, des Geschehens wegen, noch immer hart gegen die Brust. Er wagte einen Blick in das lachende Gesicht seines Nebenmannes und verspürte zugleich ein Kribbeln im Bauch. Allein dafür hatte sich die waghalsige Aktion schon gelohnt.
Währenddessen war es Perceval gelungen, sich einigermaßen zu mäßigen, doch was dann geschah, ließ Bleuciel vor Aufregung erstarren. Ungeniert stieg der Adelige auf allen Vieren über den Dieb.
„Sie können gar nicht reiten, habe ich Recht?", keuchte Perceval, bevor er sein Gewicht nach hinten verlagerte, um auf dem Becken des Mannes zu sitzen. „Dann sollte ich Ihnen bei Gelegenheit mal zeigen, wie das geht." Vielsagend biss er sich auf die Unterlippe.
Obwohl Bleuciel einem vorzeitigen Tod entgangen war, drohte sein Herz jeden Moment zu versagen. Zu spüren, wie der Körper des anderen auf seinem eigenen ruhte, sorgte für Aussetzer im Kopf. Das Blut, das sein Gehirn versorgen sollte, rauschte im Eiltempo nach unten, wo es für großen Aufruhr sorgte und eine gewisse Region zum Leben erweckte. Den heißkalten Wellen der Lust gesellte sich zudem eine beschleunigte Atmung hinzu. Es war, als durchlebte er einen Traum, in dem nur sie beide zugegen waren, um ihr neu entdecktes Verlangen gemeinsam zu erforschen. Bleuciel stand kurz davor, seine Hände an Percevals Hüften zu legen, doch bevor das geschehen konnte, stellte sich der Adelige wieder auf.
„Nun gut", sagte Perceval, als er dem Dieb auf die Beine half. „Dass Sie nicht reiten können, ist kein Problem, auch wenn Sie dies vorab hätten erwähnen können, Monsieur Dubois." Schmunzelnd klopfte sich Perceval den Staub von den Knien. „Sei's drum. Dann werden wir zwei Hübschen eben gemeinsam reiten."
DU LIEST GERADE
Le cour volé
KurzgeschichtenSchon als Kind war Bleuciel auf sich allein gestellt, weshalb ihn die Not zu einem Dieb heranwachsen ließ. Als nunmehr 20-jähriger bestimmen Misstrauen und soziale Unbeholfenheit über sein Leben. Auf seinen Beutezügen durch Frankreichs Städte des 19...