Die friedliche Idylle, die das Kloster bisweilen herzugeben wusste, wurde maßgeblich durch die Anwesenheit von sechs finster dreinblickenden Männern und ihren dazugehörigen Rössern gestört. Nicht nur, weil diese mit ihren Pferden über die angrenzende Blumenwiese trampelten, sondern allen voran, weil zwei der Männer abgestiegen waren, um Perceval trotz heftiger Gegenwehr aus dem Stall zu zerren. Den lautstarken Protesten des Adeligen ging ein wildes Strampeln seiner Füße einher. Unbeantwortet blieb die Frage, woher die Verfolger gekommen waren und wie sie ihr Opfer trotz des guten Verstecks ausfindig machen konnten.
„Loslassen!", rief Perceval, dessen Gesicht vor Wut rot angelaufen war. „Ich werde nicht mitkommen!" Erfolglos zerrte der Mann an seinen menschlichen Fesseln. „Wo ist mein Begleiter?! Was haben Sie mit Monsieur Dubois angestellt?!"
Die Erwähnung seines Namens ähnelte einem Hilferuf, der Bleuciel zum sofortigen Handeln bewog. Obschon er dem halben Dutzend rein gar nichts entgegenzusetzen hatte, eilte er zu ihnen hinüber, als besäße er die Macht sie niederzustrecken. Sei es mit Worten, Blicken oder bloß dem alleinigen Willen, sie aufhalten zu wollen. Jede dieser Optionen erschien angemessener, als tatenlos daneben zu stehen.
Mögen sie zu Hauf an mir abprallen, dachte Dubois, dessen heroische Erscheinung von einem plötzlichen Zittern überschattet wurde. Selbst der größte Heldenmut vermag es nicht, die Angst als solche zu besiegen. Ein Teil von ihr ist immer zugegen, sei dieser auch noch so winzig.
In der Zwischenzeit oblag es den Männern, den unfreiwilligen Begleiter auf eines ihrer Pferde zu wuchten. Ein Vorhaben, das Perceval mit seinem Gezappel gescheit abzuwehren wusste. Was infolge dessen geschah, sorgte beim Adeligen, wie auch dem Dieb gleichermaßen für Entsetzen.
Ein weiterer Mann – der unbemerkt von seinem Ross hinabgestiegen war – hielt einen Leinensack parat, welchen er ohne Skrupel über den Körper von Perceval riss. Binnen Sekunden wurde der Betroffene bis auf die Knöchel verschluckt, weshalb man meinen könnte, dass es sich bei dem Sack um das Maul eines Monsters handelte. Ein grausiger Anblick, der dazu führte, dass Bleuciel in seiner Bewegung innehielt und somit auf halbem Wege über die Brücke dem Stillstand erlag.
In Momenten, in denen man glaubt, dass es nicht schlimmer werden kann, wird man oftmals eines Besseren belehrt. Dass diese Erfahrung selbst vor Adeligen keinen Halt macht, lässt sich am Beispiel von Perceval klar veranschaulichen.
Mit Hilfe eines kräftigen Stoßes hatte man diesen unsanft zu Boden gebracht. Daraufhin verwendeten die Männer eine mitgeführte Schnur, um die Füße des schimpfenden Künstlers zusammenzubinden. Ungeachtet der Schmerzen und der aussichtslosen Situation, ließ sich der Zweiundzwanzigjährige keine Sekunde lang knechten, doch so sehr Perceval auch aufbegehrte, führten seine Taten nur zu unnötigem Leid.
Obgleich Bleuciel große Bewunderung für Percevals Tapferkeit hegte, verabscheute sein Herz die Gewalt. Hinzukam die Erniedrigung, die der Adelige über sich ergehen lassen musste. Dinge, die der Dieb nicht länger erdulden wollte. Es gelang ihm neuen Mut zu schöpfen, um damit den Rest der Brücke zu passieren. Nicht mal die Männer, die zeitgleich zu ihm hinübersahen, schafften es, seine Entschlossenheit im Vorfeld zu beseitigen. Als sie jedoch merkten, dass Bleuciel dem Gefangenen zur Hilfe eilen wollte, türmten sie sich wie eine lebendige Mauer vor ihm auf.
„Verzieh dich, Bursche!", blaffte einer von ihnen, womit er sich selbst zum Anführer ernannte. „Das hier geht dich nichts an!"
In seiner Aussage spiegelte sich der gemeine Umgang mit Perceval wider. Vergeblich suchte man hier nach Nettigkeiten oder gar gegenseitigem Respekt. Etwas, auf das es Dubois ohnehin nicht mehr ankam. Sein Interesse galt einzig und allein dem Mann, der im Leinensack verschnürt auf dem Boden lag. Fraglich war, ob Perceval genügend Luft darin bekam. Eine Sorge, die – bis auf den Dieb – niemanden zu kümmern schien.
„Ich möchte zu Monsieur de Rouyer", äußerte Bleuciel eigenwillig. „Ich bin seine Begleitung."
Beim Klang seiner Stimme erwachte der Leinensack zu neuem Leben. „Monsieur Dubois!", rief Perceval erfreut. „Wie gut es tut Ihre Stimme zu hören! Ich war schon ganz krank vor Sorge!"
„Selbst wenn du seine Mutter wärst", schnauzte der Söldner sein Gegenüber an. „Macht das für dich keinen Unterschied. Verzieh dich! Noch eine Warnung kriegst du nicht!"
Eine Drohung, die ihren Zweck nicht verfehlte. Bleuciel merkte, wie er innerlich ins Wanken geriet. Was sollte er als nächstes tun? Einen Kampf zu bestreiten wäre ebenso sinnlos, wie an die Vernunft dieser Schergen appellieren zu wollen. Somit beschränkten sich seine Optionen auf ein derartiges Minimum, dass schon der bloße Gedanke daran für Kopfschmerzen sorgte.
Passend dazu ließ der furchteinflößende Mann, der einem Wandschrank ähnelte und dessen Zähne nur noch in geringer Zahl vorhanden waren, ein unschönes Knacken ertönen, dessen Entstehung seinem Stiernacken zu verantworten war. Eine vermeintlich harmlose Geste, die den Dieb in die Bredouille trieb. Seltsamerweise galt Bleuciels nächster Gedanke einem Mann, für den er im Grunde keinerlei Sympathien hegte, der aber durchaus in der Lage wäre, eine solche Herausforderung mühelos zu meistern.
„Dann lassen Sie mir keine andere Wahl", hörte Bleuciel sich selbst sagen, wobei seine Stimme nicht mehr dieselbe Beständigkeit von eben besaß. „Ich werde Monsieur Dalle über die Geschehnisse informieren. Er ist ein befreundeter Gendarm von mir", fügte Dubois fingierend hinzu.
Die trüben Augen des Mannes, dessen schwulstiges Gesicht von Narben durchsetzt war, weiteten sich, was den Dieb auf einen gelungenen Schachzug hoffen ließ. Bedauerlicherweise folgte kurz darauf ein herzhaftes Gelächter, dem sich der Rest der Gruppe rasch anschloss.
„Alle Achtung", kicherte der Söldner amüsiert. „Du spielst wohl gern mit dem Feuer, was?"
Das zu bejahen wäre nicht klug, zumal Bleuciel nicht wusste, welch perfide Absicht hinter dieser Frage steckte. Er entschied daher, sich den Mantel des Schweigens überzuziehen. Davon unbeeindruckt, fuhr der Mann, der kaum noch Haare auf dem Kopf besaß, seelenruhig fort.
„Uns ist zufälligerweise bekannt, dass der Gendarm oft bei unserem Auftraggeber zu Besuch ist. Daher bezweifle ich, dass sich dieser mit solch einem Abschaum wie dir befassen würde."
Was dann wohl auch für diesen Typen gelten musste, dachte Bleuciel, der seine aufkeimende Frustration nicht verbergen konnte.
„Das reicht!", rief Perceval im Hintergrund. Sein derzeitiges Aussehen zog das Ganze ungewollt ins Lächerliche, wovon er sich aber nicht beirren ließ. „Lassen Sie ihn gehen, dann werde ich keinen weiteren Widerstand mehr leisten."
Nach kurzer Überlegung trat der Söldner schließlich von Bleuciel zurück. „Gut. Das macht unsere Rückkehr erträglicher." Er nickte den Männern zu, die Perceval im Leinensack gehüllt bäuchlings auf eines der Pferde hievten.
„A-Aber Monsieur", widersprach Bleuciel, dem das Ganze zu schnell ging und dessen Ausgang alles andere, als zufriedenstellend für ihn war. Er bedauerte so lange gebraucht zu haben und wünschte, daran etwas ändern zu können.
„Schon gut, werter Freund", beschwichtigte Perceval durch den Leinensack sprechend. „Ich würde mich freuen, wenn Sie Monique holen und zu mir in das Anwesen zurückkehren könnten."
Monique ... um ein Haar hätte Bleuciel das monströse Vieh vergessen. Wie er dem Wunsch des Adeligen nachkommen sollte, war ihm in diesem Augenblick noch ein Rätsel, doch das spielte vorerst auch keine Rolle. Die Hauptsache war, dass sich er und Perceval wiedersehen würden. Um das zu erreichen, war der Dieb bereit, jede noch so unangenehme Situation in Kauf zu nehmen. Schweren Herzens musste er dabei zusehen, wie die sechs Männer auf ihre Pferde stiegen, um gemeinsam mit Perceval davon zu traben. Alles Weitere lag nun in Bleuciels Händen.
Fest entschlossen bahnte er sich seinen Weg zu dem Stall, der zwischen dem Kloster und dem Marktplatz lag und den der Dieb ohne größere Probleme wiederfand. Die Euphorie darüber hielt jedoch nicht lange an. Der Grund dafür stand vor Monique.
„Was zum ..."
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Le cour volé
Cerita PendekSchon als Kind war Bleuciel auf sich allein gestellt, weshalb ihn die Not zu einem Dieb heranwachsen ließ. Als nunmehr 20-jähriger bestimmen Misstrauen und soziale Unbeholfenheit über sein Leben. Auf seinen Beutezügen durch Frankreichs Städte des 19...