Es war der zunehmende Harndrang, der Bleuciel inmitten der Nacht aus dem Schlaf holte. Noch etwas benommen blickte er gegen die hölzerne Decke des Stalls. Einen Moment lang fragte sich der Dieb wo er war, doch mit den hämmernden Kopfschmerzen kehrte auch die Erinnerung an den vorherigen Abend wieder zurück. Prompt dachte Bleuciel an den Kuss, woraufhin er seinen Kopf etwas nach unten neigte. Im Halbdunkeln erspähte er Perceval, dessen Kopf auf Dubois' Brust gebettet lag. Bei Betrachtung des Schlafenden verspürte Bleuciel ein leichtes Kribbeln im Bauch. Er lauschte den sanften Atemzügen des Adeligen und wagte es, sachte durch dessen Haar zu streichen.
Einen Feudalen zu küssen, wäre Bleuciel bis zum gestrigen Abend niemals in den Sinn gekommen. Man könnte behaupten, dass sie der Alkohol dazu getrieben hatte, doch entspräche dies bloß einem Vorwand, um die Wahrheit hinter verschlossenen Türen zu halten. Der Dieb war sicher, dass Perceval genauso empfand. Alles andere käme in seinen Augen einer Täuschung gleich.
Sich darüber den Kopf zu zerbrechen verhalf nicht bei dem Problem seiner randvollen Blase, dessen Dringlichkeit durch ein permanentes Ziepen angeheizt wurde. Vorsichtig griff Bleuciel unter den Kopf von Perceval, um diesen möglichst sachte neben sich im Heu zu platzieren. Seitens des Adeligen ertönte daraufhin ein Schnaufen, welches jedoch rasch in ein leichtes Schmatzen überging. Zufrieden versank der Schlafende im notdürftigen Bett, ohne sich von der Aktion wecken zu lassen.
Mühsam kämpfte sich Bleuciel auf seine Beine. Sein Körper litt noch unter den letzten Fragmenten, die der Alkohol zurückgelassen hatte. Am schlimmsten war der übermäßige Druck in seinem Kopf, der auszubrechen versuchte, indem er fortlaufend gegen die Stirn hämmerte. Nicht minder nervig war Bleuciels trockener Mund, durch welchen sich seine Zunge dick und pelzig anfühlte. Er verzog das Gesicht und massierte mit den Fingern die Stirn. Anschließend widmete er sich den beiden Kühen, die entspannt vor sich her kauten.
„Guten Morgen, die Damen", flüsterte Bleuciel, wobei seine Hand über ihre pelzigen Köpfe strich. „Verzeiht, dass ich euch gestern keine Beachtung geschenkt habe."
Da der Blasendruck keine weitere Verzögerung gestattete, verließ Dubois den Stall, um mit dem Durchschreiten des hohen Grases auf dessen Rückseite zu gelangen. Die Feuchtigkeit der Wiese drang durch seine Stiefel, was den Dieb unweigerlich frösteln ließ. Hinzukam der eisige Wind, der gnadenlos mit ihm zusammenstieß. Bibbernd zog Bleuciel den Kopf etwas ein. Fast tat es ihm leid, sein bestes Stück der Kälte aussetzen zu müssen. Nichts desto weniger fügte er sich dem Drang seiner Blase.
Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte Dubois, während der Druck mit dem Ablassen des Urins allmählich verschwand. Was nach wie vor blieb, war die stechende Kälte, die ihn umgab. Ihretwegen musste Bleuciel an das Mädchen denken, welches so elendig auf dem Stein gekauert hatte und dessen Kleidung keinen hinreichenden Schutz mehr bieten konnte. Befürchten zu müssen, dass ihr keine warme Behausung zur Verfügung stand, zerriss Bleuciel innerlich das Herz. Aus diesem Grund beschloss er, das zu tun, was er nach all den Jahren nun mal am besten konnte: stehlen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass seine Ausbeute nicht für ihn selbst bestimmt war.
Nachdem der Dieb fertig uriniert hatte, kehrte er zur Vorderseite des Stalles zurück. Dort galt sein Blick dem schlafenden Perceval. Der Gedanke, ihn jetzt zu verlassen, war nach den kürzlichen Ereignissen schwer zu verkraften. Zwischen ihnen lag etwas Besonderes, das spürte Bleuciel. Schweren Herzens schlich er zu dem Adeligen, um sich kurz an dessen Seite niederzulassen.
„Verzeihen Sie mein egoistisches Handeln", wisperte Dubois betroffen. „Vielleicht bin ich es wert, dass Sie auf meine Rückkehr warten."
Er schenkte dem Adeligen einen leichten Kuss auf die Wange, bevor er sich von seinem eigentlichen Vorhaben nach draußen geleiten ließ. Zügig bahnte sich Bleuciel seinen Weg über die steinerne Brücke. Der sternenbedeckte Himmel offenbarte sich derweil in seiner schönsten Pracht und ließ den Mond darin hell erstrahlen. Obschon der Himmel für eine hinreichende Beleuchtung gesorgt hätte, besaß die Stadt mehrere Straßenlampen, die an den Wegen und wichtigen Hauptplätzen zu finden waren. Man betrieb diese mit Öl, für dessen Entzündung es ausgewählte Leute gab. Nicht allzu förderlich für einen Dieb, aber auch kein unüberwindbares Hindernis.
DU LIEST GERADE
Le cour volé
Historia CortaSchon als Kind war Bleuciel auf sich allein gestellt, weshalb ihn die Not zu einem Dieb heranwachsen ließ. Als nunmehr 20-jähriger bestimmen Misstrauen und soziale Unbeholfenheit über sein Leben. Auf seinen Beutezügen durch Frankreichs Städte des 19...