Der Tisch, auf dem das Essen stand, war von enormer Länge. An jeder Seite befanden sich zwölf Stühle. Rechnete man die an den jeweiligen Enden noch hinzu, konnten hier insgesamt sechsundzwanzig Gäste dinieren. Das dunkle, fein gearbeitete Holz zeugte von reinem Luxus, sodass man sich kaum traute, es zu berühren.
Einen weiteren Höhepunkt bildete das Frühstück selbst. Mit seiner erstaunlichen Vielfalt wusste Bleuciel gar nicht, worauf er sich festlegen sollte. Es gab unter anderem Fleisch, Rührei mit Kräutern, verschiedene Obstsorten, süßes Gebäck und Brot, welches wahlweise mit Butter, Honig oder Marmelade belegt worden war. Als Getränk hatte man die Wahl zwischen Kaffee, Tee und Wasser. Obschon Bleuciels Magen kräftig knurrte, verharrte er hinter dem Stuhl, wobei sich seine Finger um die geschwungene Rückenlehne klammerten.
„Nur zu, Monsieur Dubois", flötete Perceval. „Keine falsche Bescheidenheit. Nehmen Sie Platz und genießen Sie die Köstlichkeiten, die unser Haus zu bieten hat." Beiläufig angelte sich der Adelige eine Traube vom Tisch. „Ich bin der festen Überzeugung, dass Ihnen das Mahl munden wird. Falls nicht, werde ich keine Mühen scheuen, um etwas Angemessenes für Sie aufzutreiben."
„Und Sie sind sicher, dass ich nicht doch lieber gehen sollte? Ich bin unpassend gekleidet und ..."
„Diese Angelegenheit hatten wir doch schon zu genüge diskutiert", fiel Perceval dazwischen. „Sie brauchen sich deswegen nicht Ihren Kopf zu zerbrechen. Ich lud Sie ein, damit Sie mein werter Gast werden und alle Annehmlichkeiten des Hauses genießen. Als Vergütung verlange ich bloß ein Porträt von Ihnen anfertigen zu dürfen."
Die Absichten des Mannes waren gut, daran hatte Bleuciel keine Zweifel. Er schätzte die Fürsorge sehr, doch wusste er nicht recht damit umzugehen. Jahrelang war der Dieb auf sich alleine gestellt gewesen. Niemand hatte ihm geholfen, geschweige denn sich so umfassend um ihn gesorgt. Die Vergangenheit hatte ihn zudem gelehrt, dass man die Dinge stets mit Misstrauen betrachten sollte, waren sie auch noch so verlockend.
Dank Morel hatte Bleuciel mehr als zehn Francs in der Tasche. Eine Summe, die genügte, um die kommenden Tage unbeschadet zu überstehen. Im Grunde brauchte er Perceval also gar nicht, selbst wenn sich dieser bisweilen als sehr sympathisch erwiesen hatte. Das Einzige, was Bleuciel jetzt noch fehlte, war eine passende Ausrede, um der Situation zu entfliehen, ohne unhöflich oder gar undankbar zu erscheinen.
„Hören Sie, Monsieur", begann der Dieb mit entschlossener Stimme. „Ich bin überaus dankbar für Ihr bisheriges Entgegenkommen, doch muss ich an dieser Stelle nochmals betonen, dass ich Händler bin. Je länger ich raste, desto weniger Geld verdiene ich."
„Zweihundert Francs", entgegnete Perceval mit entspannter Miene. „Das sollte Ihren Verlust fürs erste decken, oder? Ich kann Ihnen auch mehr zahlen, Monsieur. Daran soll es gewiss nicht scheitern."
Bestürzt darüber, mit welcher Banalität diese Summe ausgesprochen wurde, fand Bleuciel nicht mehr die passenden Worte. Das Vermögen dieser Welt hatte man ungerecht auf ihre Bewohner verteilt. Während der Dieb täglich sein Leben riskierte, um an ein paar wenige Francs zu gelangen, warf es der Adelige mit Jubel und Gesang aus dem Fenster, ohne auch nur einen müden Gedanken daran zu vergeuden. Was dem einen mangelte, besaß der andere im Überfluss. Bleuciel verstand nun, weshalb die Feudalen mancherorts so verhasst waren. Wer Hunger und Armut litt, konnte keine Sympathien für den Adel hegen.
„Hören Sie auf Ihren Magen", äußerte Perceval, der den Stuhl von Bleuciel ein wenig nach hinten gezogen hatte. „Mich dünkt, als wüsste dieser eher, was Sie benötigen, Monsieur."
Ein weiteres Grummeln unterstütze die Aussage des jungen Mannes, weshalb sich der Dieb geschlagen geben musste. Hinsichtlich der köstlichen Speisen war es kein Wunder, dass ihm sein Magen auf so unbarmherzige Weise in den Rücken fiel. Er nahm somit Platz und bewunderte zugleich die hübsch verzierten Teller, die eine auffallende Goldumrandung besaßen.
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Le cour volé
Historia CortaSchon als Kind war Bleuciel auf sich allein gestellt, weshalb ihn die Not zu einem Dieb heranwachsen ließ. Als nunmehr 20-jähriger bestimmen Misstrauen und soziale Unbeholfenheit über sein Leben. Auf seinen Beutezügen durch Frankreichs Städte des 19...