Der goldene Käfig

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Nachdem sie den Stallbereich verlassen hatten, überquerten sie eine Wiese, die kurz darauf an einen prächtigen Garten anknüpfte. Darin fanden sich neben zahlreichen Blumen auch Obstbäume und vereinzelte Gemüsebeete. Dass die Pflege einer solchen Anlage viel Mühe und Zeit erforderte, war selbst für jemand Ungeschulten unverkennbar.

Mit einer Begeisterung, die der eines Kindes ähnelte, trat Perceval an die Blumen heran. „Seht nur, Monsieur Dubois. Das sind Dahlien. Habt Ihr solche schon einmal gesehen?", fragte er, woraufhin Bleuciel den Kopf schüttelte. „Ihre prächtigen Farben wirken stets entzückend auf mich. Oh und hier!", setzte er fort, wobei seine Aufmerksamkeit den Beeten galt. „Weißkohl und Kürbisse. Daraus zaubern die Damen köstliche Speisen", schwärmte er. „Ich beneide sie dafür. Mir selbst würde das niemals gelingen."

Prompt versuchte Bleuciel sich vorzustellen, wie Perceval an der Feuerstelle hantierte.

„Und die Obstbäume erst", jauchzte Perceval, der seine Finger über die schmalen Äste gleiten ließ. „Ich liebe sie. Oft schleiche ich mich hierher, um heimlich zu naschen." Dabei pflückte er sich einen Apfel. „Die müssen Sie unbedingt probieren, Monsieur Dubois." Herzhaft biss Perceval in die Frucht. Keine Sekunde später verzog er das Gesicht zu einer seltsamen Grimasse. „Zu früh ...", krächzte er. „So sauer ..." Er überwand sich das Stück in seinem Mund hinunterzuschlucken. Den restlichen Apfel legte er jedoch auf die Wiese. „Irgendwelche Tiere werden sich daran schon erfreuen." Er schüttelte sich, als wolle er den säuerlichen Nachgeschmack auf die Art loswerden. „Gehen wir weiter."

Über den Garten gelangten sie auf einen hellen Schotterweg, der sie nun geradewegs zum Herrenhaus führte und dessen Anblick Bleuciel ins Staunen versetzte.

Die Außenfassade war in ein zartes Rosa gehüllt. Darüber hinaus besaß das Gebäude unfassbar viele Fenster, die allesamt mit einem weißen, makellosen Rahmen versehen waren. Über eine breite Treppe gelangte man zur Eingangstür des Chateaus. Auf dem Vorplatz fanden sich außerdem ein Brunnen, sowie ein paar Büsten, die das Gesamtbild auf beinahe perfekte Weise abrundeten.

„Diese Büsten", erklärte Perceval. „Hat mein Vater in Auftrag gegeben. Geschmacklos, finden Sie nicht?" Mit gerümpfter Nase betrachtete er eine von ihnen. „Ihre ernsten Mienen und toten Blicke erschüttern mein künstlerisches Herz." Sorglos ergriff er Bleuciels Hand, um den Dieb an eine weitere Bildhauerei heranzuführen. „Diese hingegen, hat wesentlich mehr Charakter, nicht wahr? Das liegt daran, dass ich sie einst von ihrem Sockel gestoßen habe", äußerte Perceval mit stolz geschwellter Brust. „Die gespaltene Nase verleiht ihr einen schurkenhaften Charme." Liebevoll strich er der Figur über den steinernen Kopf. „Als mein Vater davon erfuhr, hat er mir mit dem Stock eins übergebraten. Der mürrische Mann versteht nun mal nichts von Kunst." Schulterzuckend wandte er sich wieder ab. „Wie dem auch sei. Genug geschwatzt. Sie haben sicher schon Hunger, nicht wahr? Gehen wir hinein."

Sie kehrten zum Eingang zurück. Leichtfüßig sprang Perceval über die Stufen, wobei er immer zwei auf einmal nahm. Bleuciel, den noch immer die Zweifel plagten, kam nach kurzem Zögern hinterher. Vor der Tür verweilte indes ein Bediensteter.

„Guten Morgen, Monsieur", grüßte dieser, wobei er sich in eleganter Manier vor ihm verbeugte. „Sie wünschen?"

„Ich wünsche mir, dass Sie lächeln und die Sonne genießen", erwiderte Perceval, während er dem Mann brüderlich auf die Schultern klopfte.

Die straffe Haltung nahm ein wenig ab und tatsächlich ließ der Bedienstete ein Lächeln erblicken. Kurz darauf sah dieser zu Bleuciel. Im ersten Moment machte sich Verwunderung breit, doch schnell wusste der Mann sie zu überspielen.

Räuspernd klopfte sich Bleuciel etwas Dreck von den Klamotten. Dass er nicht hierhergehörte, war so offensichtlich, wie nackt durch ein Frauenkloster zu marschieren. Er spürte, wie die Verlegenheit seine Wangen erhitzte.

Mit Schwung öffnete Perceval die Tür. „Oh, welch fürstlicher Geruch!", rief er. „Die werten Damen verstehen ihr Handwerk."

Eine von ihnen, die gerade durch den Eingangsbereich gelaufen kam, errötete angesichts des Kompliments. Sie neigte den Kopf und ließ ihr zartes Stimmchen erklingen.

„Haben Sie Dank, Monsieur. Das ist zu gütig von Ihnen."

„Meine Teuerste", entgegnete Perceval, während dieser ihre zierliche Hand ergriff. „Wären Sie so freundlich, einen weiteren Platz anzurichten? Ich habe heute Morgen einen Gast."

Die Anrede mitsamt der Berührung ließ sie noch mehr erröten. Nervös huschten ihre großen Augen hin und her. Es brauchte eine Weile, bis sie ihre Besinnung wiederfand.

„G-Gewiss doch, Monsieur", stotterte sie. „Sofort."

Zufrieden nickte Perceval ihr zu. Danach wandte er sich an Bleuciel.

„Sie werden schnell merken, dass mein Vater seinen Reichtum gerne offen kundtut", sprach Perceval mit ausgestreckten Armen. „Bunte Tapeten, dutzende Gemälde, Kronleuchter, gepolsterte Sessel und Stühle, Möbel aus feinstem Holz und allerlei Schnickschnack aus Silber und Gold. Wir besitzen auch ein Klavier, eine pompöse Bibliothek, mehrere Schlafräume und Bäder und selbstverständlich auch einen Ballsaal, in dem die Feierlichkeiten abgehalten werden." Seufzend verschränkte Perceval die Arme vor seiner Brust. „Ich weiß", sagte er. „Ich dürfte mich nicht beklagen. Es mangelt mir schließlich an nichts. Es mag auch seltsam und undankbar klingen, doch diese Dinge hier ermüden mich. Ständig begegnet man denselben Personen, von denen einer langweiliger ist, als der andere." Beiläufig fuhr sich Perceval durch sein welliges Haar. „Ich sehne mich nach Abenteuer und Inspiration für meine Kunst. Hin und wieder spielte ich schon mit dem Gedanken von hier fortzugehen, doch mein Vater lässt dies nur selten zu. Sobald ich mich längere Zeit nicht blicken lasse, schickt er Männer, um mich einzufangen. Das ist wahrlich frustrierend."

Ein goldener Käfig, dachte Bleuciel. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass ein Adeliger in irgendeiner Form litt. Die Welt der Reichen glich wahrlich einem Mysterium. Geld allein schien nicht des Glückes Schmied zu sein. Es gehörte auch Freiheit dazu und die Möglichkeit, seinen eigenen Interessen nachgehen zu können.

„Dafür müssen Sie keinen Hunger leiden", hörte Bleuciel sich selbst sagen und erschrak. „T-Tut mir leid. Ich wollte nicht ..."

„Schon gut", beschwichtigte Perceval. „Ich verstehe, worauf Sie hinausmöchten, Monsieur Dubois. Einst ertappte mich mein Vater dabei, wie ich einem Bettler einhundert Francs zustecken wollte. Er hatte getobt, mich aufs übelste beschimpft und dem Bettler das Geld aus den Händen gerissen. Für ihn sind solche Menschen der Abschaum dieser Welt. Lieber lässt er sie elendig verrecken, als ihnen auch nur einen Sou zuzugestehen."

Bleuciel und Perceval mussten für ihr Dasein kämpfen, jeder auf seine eigene Art. Sie hatten unterschiedliche Hürden zu meistern und sehnten sich doch nach demselben Ziel, endlich ein unbeschwertes Leben führen zu können. Vielleicht würde dies ja einem der beiden irgendwann gelingen ...

„Genug Trübsinn für einen Tag", zwitscherte Perceval. „Das Frühstück wartet. Gehen wir."

Le cour voléWo Geschichten leben. Entdecke jetzt