Bleuciel spürte, dass die Gefahr noch nicht vorüber war. Sein Plan, in der Menge unterzutauchen, war nicht so vielversprechend, wie erhofft. Er senkte den Kopf und riskierte einen Blick, der ihm Aufschluss über die derzeitige Situation verschaffen sollte. Dabei fiel sein Augenmerk auf Fernand Dalle, was den Dieb vor Schreck aufhorchen ließ. Von allen Gendarmen der Welt, musste es ausgerechnet dieser Mann sein, dachte Dubois, der kein schlimmeres Los hätte ziehen können.
Als hätte Dalle seine Angst gerochen, sah dieser augenblicklich zu ihm hinüber. Die Chance auf ein heimliches Entrinnen war damit vertan. Mit der Einmischung des Gendarmen spitzte sich die Lage zu. Bleuciels einziger Ausweg beschränkte sich daher auf die direkte Flucht. Ein lästiges Vorgehen, das in den letzten Tagen zur Gewohnheit geworden war und die Nerven von Dubois gehörig strapazierte. Er war es leid, ständig von der Angst beschattet zu werden, die keine annähernd so angenehme Begleitung, wie Perceval war.
Zu gern hätte Bleuciel nach dem Adeligen gesehen. Sich ohne ein Wort davonmachen zu müssen, schmerzte ihn innerlich und hinterließ ein klaffendes Loch. Seine einzige Hoffnung bestünde darin, zu dem Anwesen zurückzukehren, doch wie viel Zeit bliebe ihm dann bis zum Erscheinen von Dalle? Und wer garantierte ihm, dass Perceval ebenfalls dort sein würde? Der Plan wies zu viele Lücken auf, um in die Tat umgesetzt werden zu können und für weitere Einfälle mangelte es dem Dieb schlichtweg an Zeit. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich Dalle in Bewegung setzte, weswegen nun Eile geboten war.
Der Dieb zwängte sich, trotz einiger Proteste, durch die Menschenmasse, die ihm wie eine Welle entgegenschwappte und sein Tempo stark drosselte. Mühsam bahnte er sich seinen Weg zum Anfang des Marktplatzes, wobei ihm sein Verfolger dicht auf den Fersen war.
Für Dalle war das Voranschreiten wesentlich leichter, da ihm die Leute ohne zu zögern den Weg freimachten. Eine Annehmlichkeit, die er dem Dasein als ranghoher Gendarm zu verdanken hatte. Auf die Art verringerte sich der Abstand zwischen dem Jäger und dem Gejagten recht schnell.
Eine gefährliche Entwicklung, die nicht spurlos an Bleuciel vorüberging. Seine Hände begannen zu zittern, ebenso wie seine Beine. Das Blut rauschte durch seine Adern und versetzte das beanspruchte Herz in Alarmbereitschaft. Die zunehmende Bedrängnis wirkte derweil wie ein Nervengift, dessen lähmende Eigenschaft weitere Furcht gedeihen ließ. Ferner glaubte Bleuciel, den Atem des Gendarmen in seinem Nacken zu fühlen, weshalb sein Verstand kurzerhand kapitulierte. Nun oblag es dem Instinkt, die Dinge zu regeln. Tüchtig trieb dieser den Körper voran, ohne auf irgendwas Rücksicht zu nehmen.
Obschon es dem Dieb dadurch gelungen war, sich aus der Horde von Menschen zu befreien, stand sein Scheitern dennoch unmittelbar bevor. Die Hand des Gendarmen streckte sich bereits nach ihm aus, als ein unbedachtes Kind zwischen die Fronten geriet und eine Festnahme in letzter Sekunde verhinderte.
Der vermeintlich harmlose Zwischenfall erweckte in Bleuciel neue Hoffnung. Die Euphorie durchströmte seinen Körper und schenkte ihm wertvolle Energie. Mit Hilfe des Adrenalins, rannte Dubois jetzt los, um seinem Verfolger durch die Lappen zu gehen.
Wovon der Flüchtende jedoch nichts ahnte, waren die anderen Gendarmen, die Dalle an bestimmten Positionen der Stadt aufgestellt hatte. Sie schnitten dem Dieb bestimmte Wege ab, sodass dieser unbemerkt auf eine Sackgasse zusteuerte.
Bleuciel, der sich in dieser Stadt keineswegs auskannte, konnte nichts weiter tun, als seinem unbestimmten Schicksal in die Arme zu laufen. Nach Luft ringend erreichte er nach zehnminütiger Hetzjagd eine lange Gasse, an dessen Ende sich eine hohe Mauer erstreckte. Sobald ihm die missliche Lage klar wurde, war es bereits zu spät. Die Falle hatte zugeschnappt.
Japsend fuhr Bleuciel in der Gasse herum. Vor ihm stand Dalle mit zwei weiteren Gendarmen, von denen einer schon die Handschellen bereithielt.
„Aber Monsieur, wohin des Weges?", fragte Dalle, der sich sein überhebliches Grinsen nicht länger verkneifen konnte. Er war sich seines errungenen Sieges durchaus bewusst.
Während der Schweiß in Sturzbächen über Bleuciels Stirn lief, blähte sich dessen Brustkorb in geringen Abständen auf. Aufgrund der Anstrengung waren seine Wangen noch sichtlich gerötet. Der Dieb schluckte, schnappte hörbar nach Luft und trat, trotz der Wand in seinem Rücken, ein paar Schritte zurück.
Etliche Horrorszenarien spukten beim Anblick der Gendarmen durch seinen Kopf. Er war verloren. Sich dessen bewusstzuwerden, schnürte ihm vor Angst die Kehle zu. Er schaffte es nicht, eine Antwort zu geben, weshalb Dalle an seiner Stelle einfach weitersprach.
„Ich wusste sofort, dass Sie Ärger bedeuten würden. Schon Ihr gestriges Verhalten hat auf mich keinen guten Eindruck gemacht." Kopfschüttelnd verschränkte Dalle die Arme vor der Brust. „Ich bereue bloß, dass ich nicht hartnäckiger gewesen bin. Es war ein Fehler, Sie ziehen zu lassen, doch diesen Frevel werde ich ganz schnell wieder beheben."
„I-Ich habe nichts verbrochen, Monsieur", entgegnete Bleuciel, der diese Lüge als letzten Ausweg sah.
Worte, bei denen der Gendarm unweigerlich lachen musste. „Natürlich nicht, Monsieur", jauchzte er mit schriller Stimme, die seinem ernsten Wesen widersprach. „Aus welchem Grund wurden Sie dann einer Straftat bezichtigt? Und weshalb die überstürzte Flucht? Hat ein Garten nach Ihnen verlangt?" Die Miene des Mannes verfinsterte sich. „Genug!", schimpfte er. „Einem räudigen Köter sollte kein weiterer Respekt mehr gezollt werden. Ich werde dich festnehmen und in die Arrestzelle bringen lassen. Dort kannst du schön versauern, bis dir der Prozess gemacht wird."
Durch die Ankündigung verspürte Bleuciel ein flaues Gefühl in seinem Magen. Panisch sah er sich um, als hoffte er auf einen Durchgang oder ähnliches zu stoßen, welcher ihm vorhin vielleicht entgangen sein mochte. Leider fand er nichts dergleichen, weshalb sich nun ein permanentes Hämmern in seinem Kopf bemerkbar machte. Zu behaupten, dass er keine Angst hätte, wäre gelogen.
„Selbst jetzt noch maßt du dir an, dem Gesetz entfliehen zu können", knirschte Dalle, dem die Blicke seines Gegenübers nicht entgangen waren. „Ich schätze, dass du dir deiner Lage noch nicht bewusst bist, Bursche. Vielleicht hilft es dir, wenn wir es dich spüren lassen?"
Die zwei Begleiter vernahmen den indirekten Befehl und zückten ihre Schlagstöcke hervor. Entsetzt darüber trat Bleuciel weiter zurück. Binnen kürzester Zeit drohte die Lage zu eskalieren. Mit erhobenen Händen appellierte er an die Vernunft von Dalle.
„Bitte Monsieur!", flehte Bleuciel im bangenden Ton. „Das können Sie nicht tun."
„Wozu ich im Stande bin, kann dein mickriger Geist nicht erfassen", schnauzte Dalle. „Dem Volk wirst du nie ebenbürtig sein, du dreckiger Hund, doch du wirst lernen zu gehorchen."
Bevor Dubois etwas erwidern konnte, schlug ihm der rechte Gendarm mit seinem Schlagstock in den Bauch. Mit einem Röcheln fasste sich das Opfer an die betroffene Stelle. Durch den Schmerz beugte sich Bleuciel nach vorn, was der linke Gendarm nutzte, um mit dem Stock gegen die Wange zu schlagen.
Wie ein Blitz zuckte der scharfe Schmerz durch Bleuciels Gesicht. Bunte Sterne flackerten vor seinem geistigen Auge, während sein Kopf wegen der Wucht zur Seite geschleudert wurde. Ein Alptraum, dachte der Dieb, der einen dritten Schlag auf den Rücken erhielt. Er musste daraus erwachen und zwar schnell!
Hustend sackte er auf die Knie, wobei er sich mit einer Hand auf das Pflaster stützte. Der kalte Stein fühlte sich surreal an, fast so, als gehörte dieser gar nicht hierher. Ebenso wenig, wie Bleuciel. Kurze darauf war es Dalle, der neben ihm stand und der mit Verachtung auf ihn herabsah.
„Endlich bist du da, wo du hingehörst", hörte Dubois ihn sagen. „Am Boden", fügte Dalle eiskalt hinzu, bevor er seinem Opfer einen heftigen Tritt in die Magengegend verpasste.
Zu viel für Bleuciel, der sich zwangsläufig übergeben musste. Er verzog das Gesicht und schöpfte nach Atem. Die pochenden Schmerzen benebelten seine Sinne und trübten seinen Verstand. Darüber hinaus wirkte die ganze Umgebung mit einem Mal stumpf und weit entfernt.
Das Nächste, was Bleuciel spürte, waren Arme, die ihn ruckartig nach oben zerrten. Er selbst vermochte nicht mehr auf eigenen Füßen zu stehen. Ein Umstand, den die Gendarmen schon zur Genüge von anderen Gefangenen kannten. Stillschweigend schleiften sie den benommenen Dieb mit sich mit, der wenig später das Bewusstsein verlor.
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Le cour volé
Historia CortaSchon als Kind war Bleuciel auf sich allein gestellt, weshalb ihn die Not zu einem Dieb heranwachsen ließ. Als nunmehr 20-jähriger bestimmen Misstrauen und soziale Unbeholfenheit über sein Leben. Auf seinen Beutezügen durch Frankreichs Städte des 19...