Ein Schreck jagt den nächsten

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Die verhängnisvollen Worte hämmerten sich Bleuciel in den Kopf und vertrieben die einstige Müdigkeit. Ihm war, als verlöre er gleich das Bewusstsein. Er war kreidebleich geworden und spürte, wie ihm das Herz vor Angst in die nicht vorhandene Hose rutschte. Schnell fragte er sich, wann Morel dahintergekommen war und weshalb sie sich trotz dieser erschütternden Erkenntnis auf so leidenschaftliche Art geliebt hatten. Vielleicht ein Trick, mutmaßte Bleuciel, der sich seit dieser Aussage nicht von der Stelle gerührt hatte. Angesichts dessen schien der Umstand, dass sie noch nackt auf dem Sofa weilten, geradezu schauderbar.

Morel, dem die Wesensänderung nicht entgangen war, runzelte plötzlich die Stirn. „Ihr seid ein Dieb", wiederholte er, womit er Bleuciel einen Hieb in die Magengrube versetzte. „Wie sonst wärt Ihr in der Lage, mich meines Herzens zu berauben?"

Die kleine, jedoch nicht unbedeutende Ergänzung, erweckte in Bleuciel einen Hoffnungsschimmer. Dann handelte es sich hierbei nicht um die Art Anschuldigung, für die er sie zu Beginn gehalten hatte? Einen weiteren Lichtblick erbrachte Morels aufrichtiges Lächeln. Unbegründet schien nun die Angst vor einer kaltnassen Gefängniszelle, die sich der Dieb in seiner Fantasie gründlich ausgemalt hatte. Mit der Erleichterung kehrte nun auch das Leben in Bleuciels erstarrte Gliedmaßen zurück.

„Dazu bin ich, weiß Gott, nicht in der Lage, Monsieur", wagte der Dieb zu antworten. „Doch bin ich froh, wenn Ihnen der Abend mit mir gefallen hat."

„Mehr als das", versicherte Morel, bevor er den Handrücken von Bleuciel mit einem Kuss versetzte. „Es wäre schön, wenn Sie eine Weile bei mir blieben. Ließe sich das bewerkstelligen?"

„I-Ich schätze schon", erwiderte Bleuciel, für den die Lage dadurch ein wenig heikel wurde.

Er hatte einen Teil von Morels Geld gestohlen und noch immer vegetierte seine Kiepe mutterseelenallein in einem Busch, um endlich von dort abgeholt zu werden.

„Dann wurde ich vom Glück gesegnet", gähnte Morel, der sich gemeinsam mit Bleuciel der Länge nach auf das Sofa legte.

Klug wäre es, sich anzuziehen, wofür es Morel an nötiger Kraft und Motivation zu mangeln schien. Schon wenige Augenblicke später vernahm Bleuciel dessen sanften Atemzüge. Für ihn selbst war an Schlaf nicht mehr zu denken. Zu sehr hatte das vorherige Missverständnis seinen Geist aufgewühlt. Hinzukam das schmierige Öl, welches allmählich aus seiner Körperöffnung hinaussickerte und das Bleuciel um jeden Preis loswerden wollte.

Er wartete noch einen Moment, ehe er in das schlafende Gesicht seines Nebenmannes blickte. Vorsichtig befreite sich Bleuciel aus der halben Umarmung, um aufzustehen. Er begab sich auf die Suche nach einem Leinentuch, um seinem Körper die notdürftige Säuberung zu gönnen. Danach schlüpfte Bleuciel Stück für Stück in seine Klamotten zurück, wobei auch sein Gehrock nicht fehlen durfte. Mit ihm fühlte sich der Dieb nach wie vor am wohlsten.

Während des Anziehens war Bleuciel auf sein fehlendes Messer aufmerksam geworden. Das mitunter wichtigste Werkzeug eines Diebes, auf das sich nicht verzichten ließ. Im Gras danach zu suchen, währe eine Option. Eine weitere fand sich womöglich hier vor Ort.

Neugierig sah Bleuciel sich jetzt um. Noch einmal vergewisserte er sich, dass Morel schlief, bevor er auf Zehenspitzen zu dem Schreibtisch schlich. Er warf einen Blick auf die Dokumente, mit denen er jedoch nichts Nennenswertes anfangen konnte. Im Gegenzug waren die Schubladen umso verlockender. Darin fand der Dieb unter anderem einen hübsch verzierten Brieföffner, der sich hervorragend als Ersatz für sein verlorenes Messer eignete. Er nahm diesen an sich und platzierte ihn an seinem Gürtel. Während er das tat, überkam ihn ein weiteres Mal das schlechte Gewissen, welches er Stunden zuvor schon einmal kennenlernen durfte. Sie hemmten Bleuciel in seinem Handeln und zermarterten seinen Verstand. Eine unschöne Begleiterscheinung, die die Nerven des Diebes gehörig strapazierten. Er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass Morel nichts dagegen einzuwenden hätte. Hierbei ging es schließlich nur um einen völlig unbedeutenden Brieföffner, der keiner Erwähnung bedurfte.

Somit setzte Bleuciel seinen leisen Gang durch das Zimmer fort. Nebenher blickte er zu Morel, der brav vor sich hinschlummerte und keine Anstalten eines vorzeitigen Erwachens machte.

Plötzlich bemerkte Bleuciel einen schmalen Durchgang, der neben dem massiven Schrank in ein weiteres Zimmer zu führen schien. Obschon er Morel keiner weiteren Gegenstände berauben wollte, trieb ihn die Neugier auf das Unbekannte automatisch voran.

Vermutlich befand sich dort nur das Schlafzimmer des Mannes, was so gesehen nichts Außergewöhnliches war. Trotz allem versuchte Bleuciel mehr in Erfahrung zu bringen und das aus einem guten Grund. Schließlich waren er und Morel jetzt so etwas wie ein Liebespaar. Da schien es nur allzu verständlich, dass Bleuciel mehr über ihn wissen wollte.

Aufgeregt durchquerte er den Gang, der sich nun in völliger Dunkelheit vor ihm erstreckte. Das Licht des Kamins reichte nicht aus, um bis an das Ende zu strahlen, weshalb sich Bleuciel an der Wand entlangtasten musste, bis er den Griff einer Tür zwischen die Finger bekam. Fast wirkte es, als wäre der Dieb auf den Fundort eines uralten Schatzes gestoßen. Seine Finger waren eiskalt. Er hörte sich selbst atmen und spürte, wie die aufsteigende Ruhelosigkeit in ein Bauchgrummeln überging. Welche Geheimnisse mochten hinter dieser Tür wohl auf ihn lauern? Dies zu erfahren erforderte nur noch einen allerletzten Schritt.

Wenn Bleuciel das Folgende erahnt hätte, wäre er dem Raum in einem weiten Bogen aus dem Weg gegangen. Niemals hätte die Tür zu dem Zimmer geöffnet, geschweige denn hineingesehen. Bedauerlicherweise konnte der Dieb nicht in die Zukunft sehen. Ahnungslos und wissbegierig, wie er war, ließ er den Impuls gewähren. Somit öffnete er die Tür, um etwas zu entdecken, das sein darauffolgendes Handeln maßgeblich beeinflussen würde.   

Le cour voléWo Geschichten leben. Entdecke jetzt