Bleuciels Weg hatte ihn zurück in die Stadt geführt, wo nun - im Vergleich zu vorhin - ein reges Treiben herrschte. Dort waren Frauen, die eifrig miteinander tratschten, Männer, die schweres Gut durch die Gegend trugen und Kinder, die lachend herumtollten, ohne sich von irgendwem dabei stören zu lassen.
Einen Moment lang beneidete sie Bleuciel um das geregelte Leben, welches sie führten und wünschte sich, ein Teil von ihnen zu sein. Was wohl aus ihm geworden wäre, wenn die Soldaten sein Heimatdorf nicht zerstört hätten? Eine Frage, über die sich bloß spekulieren ließ.
Ohne Kiepe kam Dubois zügig voran. Er ließ die schmalen Gassen hinter sich und erreichte einen Platz, auf dem sich nebst einer Kirche auch mehrere kleine Boutiquen befanden. Neugierig ließ der Dieb seinen Blick über die Schaufenster schweifen, hinter denen er unter anderem feinste Kleidung, Schmuck und Glaswaren ersah. Allesamt Ware, mit der sich eine beträchtliche Menge Geld verdienen ließe. Zu bedauerlich war da der Umstand, dass solche Läden stets wohlbehütet wurden und gierigen Dieben wie Bleuciel keine Möglichkeit boten, sich unrechtmäßig daran zu bereichern. Wer hierbei erwischt wurde, hatte mit schweren Strafen zu rechnen.
Der Klang einer herannahenden Kutsche erweckte Bleuciels Aufmerksamkeit. Er fürchtete dem Gefangenen zu begegnen, weshalb er panisch herumfuhr. Zu seinem Glück blieb die aufkeimende Angst jedoch unbegründet, da es sich hierbei um eine harmlose Transportkutsche handelte. Diese kam einige Meter vor Dubois zum Stehen.
Nachdem die kleine Holztür geöffnet worden war, trat ein Mann aus der Kabine hervor, der in Bleuciels Augen recht hübsch anzusehen war.
Der Unbekannte musste schätzungsweise Mitte Zwanzig sein. Er hatte blondes, schulterlanges Haar, welches zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden worden war. Einige Strähnen hatten den Strapazen des Tages nicht standgehalten, weshalb sich diese im Gesicht ihres Besitzers wiederfanden.
Der adretten Erscheinung wurde der Mann anhand seines seltsamen Outfits nicht ganz gerecht. Wo Reiterhose und Stiefel noch eine Einheit bildeten, wirkte das schlichte Leinenhemd nahezu unvollständig. Woran es hier zu mangeln schien, war eine Weste mit ihrer dazugehörigen Jacke, was bei Bleuciel für arge Verwunderung sorgte.
Als ihre Blicke im Zuge des Versehens aufeinandertrafen, schreckte Bleuciel innerlich zusammen. Er wollte der Situation entfliehen, konnte sich den Augen seines Gegenübers jedoch nicht entziehen. Erst nachdem ihm der Fremde ein sanftes Lächeln geschenkt hatte, gelang es dem Dieb sich abzuwenden. Räuspernd bediente sich Dubois der nächstbesten Hausecke, um sich dort vor weiteren Peinlichkeiten zu bewahren.
Im Umgang mit anderen Menschen war Bleuciel nicht sonderlich geübt. Alles was er konnte, war diese zu bestehlen, weshalb ihm eine derartige Begegnung große Mühe bereitete. Er fragte sich, wohin der Mann gegangen war und erschrak, als dieser mit einem Mal vor ihm stand.
„Hier seid Ihr", sprach der Fremde mit leicht rauchiger Stimme. „Verzeiht Monsieur. Es lag nicht in meiner Absicht, Sie zu erschrecken. Erlaubt mir, mich vorzustellen. Mein Name ist Alexandre Morel."
So schön der Name auch sein mochte, war es nicht das, was Dubois wissen wollte. Vielmehr interessierte er sich für die Absicht der zugrundeliegenden Verfolgung.
Waren sie sich früher schon einmal begegnet? Hatte der Mann einen von Bleuciels Diebstählen gesehen? Die zeitliche Verzögerung sprach gegen eine solche Annahme, sodass die Gedanken nach weiteren Möglichkeiten suchten.
Da der Dieb indes keinen Mucks von sich gab, wagte Morel einen weiteren Schritt. „Nun Monsieur. Dürfte ich auch Ihren Namen in Erfahrung bringen?"
Dem erwartungsvollen Gesichtsausdruck hatte Bleuciel nichts entgegenzusetzen. Obschon er seinen Namen nur ungern preisgab, würde die Verweigerung zu einem ungewollten Misstrauen führen.
„Bleuciel Dubois", stellte er sich anstandsgemäß vor.
„Wie überaus zutreffend", bemerkte Morel, dem ein weiteres Lächeln über die Lippen huschte.
Mit der Hauswand im Rücken fühlte sich Bleuciel wie ein Tier, das man in die Ecke gedrängt hatte. Die Unterhaltung zwischen ihnen sorgte für weiteres Unbehagen. Unklar war nach wie vor, weshalb ihm Morel hinterhergelaufen war. Ihn danach zu fragen, traute sich Bleuciel aber nicht.
„Ihr außergewöhnlicher Gehrock", sagte Morel. „Dürfte ich fragen, wo Sie diesen erworben haben?"
Da Bleuciel den Gehrock einst gestohlen hatte, konnte er diese Frage nicht wahrheitsgemäß beantworten. Davon abgesehen wirkte Morel nicht wie ein Mann, der diese Art von Kleidung bevorzugte. Womöglich diente die Erkundigung einem Vorwand, um Bleuciel auf die Schliche zu kommen. Das Gespräch noch weiter in die Länge zu ziehen, wäre zu riskant.
„Verzeiht", brummte Bleuciel. „Die Erinnerung daran ist mir entfallen. Ich muss jetzt auch weiterziehen. Wenn Ihr mich also entschuldigen würdet ..."
„Mich dünkt, dass ich zu forsch gewesen bin", gestand Morel. „Die Wahrheit ist, dass mir Ihr Anblick sehr gefiel." Er fasste Bleuciel am Oberarm, als wolle er diesen von weiteren Taten abhalten. „Bitte Monsieur. Wenn Sie jetzt gehen, fürchte ich, Sie nie wiederzusehen."
Die Finger, die Bleuciel nur sanft berührten, fühlten sich wie eine Stahlklaue an. Ihn zurückhalten zu wollen, sprach gegen seine Natur. Dementsprechend harsch fiel Bleuciels Reaktion aus, als er die Hand von Morel beiseite schlug.
„Verzeiht mir", sagte der Dieb, dem es endlich gelang sich zu befreien.
Zügigen Schrittes lief er seinem Verfolger davon. Er bahnte sich seinen Weg zwischen den Häusern entlang, von denen eines dem anderen zu gleichen schien und er schon bald die Orientierung verlor. Kurz darauf fand sich Bleuciel in einem Wald aus Wänden und Dächern wieder, an dem sein Verstand zu zermürben drohte. Obwohl er seiner Meinung nach nur in eine Richtung lief, gelangte er immer wieder an die Stelle, von der aus er gestartet war. Schließlich erforderte es einiges an Zeit und Geduld, um den Häuserschluchten nach mehrmaligem Scheitern zu entkommen.
Allmählich glaubte Dubois einem Fluch erlegen zu sein. Seit seinem Erscheinen hier, waren die seltsamsten Dinge passiert. So gesehen war es wohl eher die Stadt selbst, auf der ein Fluch lastete, doch selbst wenn dem so wäre, konnte Bleuciel nicht gehen, ohne vorher etwas gestohlen zu haben. Er wusste nicht, was die nächste Stadt für ihn bereithalten würde, weshalb er unbedingt etwas vorsorgen musste.
Da er Morel kein weiteres Mal begegnen wollte, verbrachte Bleuciel die nächsten Stunden damit, sich außerhalb der Stadt aufzuhalten. Dafür suchte er sich ein ruhiges Plätzchen, an dem sich ein paar hohe Bäume und gewaltige Büsche befanden. Sie boten ausreichend Schutz, um nicht auf Anhieb gesehen zu werden. Aus diesem Grund entschied sich der Dieb für ein kurzes Nickerchen. Dafür kletterte er auf einen der Bäume, deren gewaltigen Stämme sich als hinnehmbare Schlafstätte eigneten.
Erst gegen Abend erwachte Bleuciel, wobei sein Körper wegen der Kälte steif geworden war. Er stieg vom Baum und sprang ein wenig herum, um seinen Gliedmaßen neues Leben einzuflößen. Die Dämmerung lud dazu ein, auf Beutejagd zu gehen, doch gerade als sich Bleuciel auf den Weg machen wollte, vernahm er ein verdächtiges Knacken.
DU LIEST GERADE
Le cour volé
Short StorySchon als Kind war Bleuciel auf sich allein gestellt, weshalb ihn die Not zu einem Dieb heranwachsen ließ. Als nunmehr 20-jähriger bestimmen Misstrauen und soziale Unbeholfenheit über sein Leben. Auf seinen Beutezügen durch Frankreichs Städte des 19...