Während die Sonne am nächsten Morgen hinter den Hügeln emporstieg, trabte Bleuciel müde und entkräftet vor sich her. Um ihn herum erstreckten sich endlose Felder. Der ungleichmäßige Erdboden erschwerte dem Dieb sein Vorankommen und ließ ihn hin und wieder etwas stolpern. Für einen anständigen Schritt haperte es Bleuciel schlichtweg an Energie. Hinzukam, dass das Geklapper seiner beiden Töpfe fast schon etwas Beruhigendes mit sich brachte, weshalb seine Augenlider immer schwerer zu werden drohten.
Der Geruch von feuchter Wiese vermischte sich mit dem des Weizens auf dem Feld. Ein angenehmer Duft, der das Gemüt von Bleuciel besänftigte. Der Schock, den er Stunden zuvor erlebt hatte, war nur noch eine unschöne Erinnerung, die am Rande seines Gedächtnisses kauerte.
Obwohl Alexandre Morel nicht an der Zerstörung seines Dorfes beteiligt gewesen war, empfand Bleuciel dieselbe Abneigung für ihn, wie für diejenigen, die es gewesen waren. In seinen Augen fungierte jeder Soldat als willenlose Tötungsmaschine. Wer es fertigbrachte, andere in hoher Zahl und auf solch grausame Weise zu töten, konnte nicht im Besitz einer Seele sein.
Die zunehmende Erschöpfung zwang Bleuciel für einen Moment innezuhalten. Er spürte den Schweiß auf seiner Stirn, ebenso wie das Pochen seiner geschwollenen Füße. Verlockend war der Gedanke, sich hinzusetzen, doch wusste er, dass er anschließend nicht mehr in der Lage wäre, sich zu erheben. Nebenbei vernahm Bleuciel das Zwitschern der Vögel, sowie den Wind, der durch die Kronen vereinzelter Bäume rauschte. Wäre sein Schicksal nicht so ungewiss, hätte er sich an solcherlei Dingen durchaus erfreut.
Nachdem sich seine malträtierten Muskeln und Sehnen ein wenig erholt hatten, setzte der Dieb seinen Weg trotz diverser Qualen fort. Im Grunde blieb ihm keine andere Wahl. Er brauchte eine Unterkunft und etwas zu Essen. Wenn Madame Petit mit ihrem Eintopf zugegen wäre, dachte Bleuciel, gäbe es für seinen knurrenden Magen keinen Anlass mehr, sich zu beschweren.
Die Stunden vergingen, ohne dass eine Stadt in Sichtweite war. Inzwischen durchquerte Bleuciel einen kleinen Waldabschnitt, hinter dessen Bäumen er die wildesten Tiere vermutete. Er ließ seinen Blick stur geradeaus gerichtet, um sich nicht von unnötigen Dingen ablenken zu lassen. Für ihn zählte bloß das weitere Vorankommen. Seine schmerzenden Füße wiesen mit jedem Schritt darauf hin, dass sie ihn nicht länger zu tragen vermochten. Eine Warnung, auf die es der Dieb wohl oder übel ankommen lassen musste.
Nachdem er den Wald hinter sich gebracht hatte, erspähte Bleuciel ein paar Grünflächen, die bisweilen noch ungenutzt schienen und an dessen Rändern das Unkraut wucherte. Darüber hinaus entdeckte er einen schmalen Fluss, der sich gemütlich durch die Landschaft schlängelte. Ohne zu zögern trat Bleuciel an das plätschernde Gewässer heran, um niederzuknien. Mit beiden Händen schöpfte er das klare Wasser, welches er zügig an seine rissigen Lippen führte. Ein wahrer Hochgenuss, für den seine getrocknete Kehle überaus dankbar war.
Die kleine Rast gewährte dem Dieb einen geringen Aufschub an Energie. Mit ihr galt es die letzte Hürde zu meistern, ohne sich entmutigen zu lassen. Da die Sonne bereits ihren Untergang anstrebte, setzte er seinen Weg so schnell es ihm möglich war fort.
Ungeachtet des guten Willens und allen Widerständen zum Trotz, erreichte Bleuciel die nächste Stadt erst, nachdem die Sonne bereits lang verschwunden war. Der Mond war an ihre Stelle getreten, um noch ein bisschen Licht zu spendieren.
Den Schmerz, die Erschöpfung und den Hunger, den Bleuciel während all der Stunden über sich hatte ergehen lassen müssen, zeichnete sich nun auf seinem fahlen und ermatteten Gesicht ab. Die Euphorie über die Ankunft war noch das Einzige, das den Mann auf seinen Beinen hielt.
Die Stadt selbst – die von einer hohen Mauer umgeben war – besaß an ihrem Eingang einen steinernen Torbogen, dessen Außenfassade man mit einem blassen Gelb bestrichen hatte. An diesem Torbogen wiederrum befand sich ein kleiner Posten, aus dem jetzt ein Gendarm getreten kam. Bei Betrachtung von Bleuciel verzog dieser die Brauen zu einem grimmigen Blick.
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Le cour volé
Short StorySchon als Kind war Bleuciel auf sich allein gestellt, weshalb ihn die Not zu einem Dieb heranwachsen ließ. Als nunmehr 20-jähriger bestimmen Misstrauen und soziale Unbeholfenheit über sein Leben. Auf seinen Beutezügen durch Frankreichs Städte des 19...