Atemlos

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Das Knacken ließ Bleuciel vor Furcht erstarren. Ein Schuss wäre nicht minder gefährlich gewesen. Sich dessen bewusst zu werden, erforderte ein wenig Zeit. Zeit, die dem ahnungslosen Opfer nicht mehr blieb. Bevor sich Bleuciel darauf einstellen konnte, riss ihn die Wucht seines Angreifers zu Boden. Er fiel auf den Bauch, wobei das Laub den Sturz ein wenig minderte. Trotz allem fühlte Bleuciel, wie ihm die Luft aus den Lungen trat. Im selben Augenblick gewannen Verwirrung und Angst die Oberhand.

Die Augen vor Schreck weit aufgerissen, vernahm Bleuciel den Geruch von modriger Erde. Sein Gegner – dessen Identität noch im Verborgenen lag – ruhte mit dem gesamten Gewicht auf ihm drauf, weswegen jeder Versuch des Aufraffens umgehend vereitelt wurde.

In Momenten der Not ist es der Instinkt, der einem trotz widriger Umstände beiseitesteht. Dieser animierte Bleuciel zu einem Gegenschlag. Er grub seine zittrigen Finger in die kühle Erde, um sie danach in blinder Manier nach hinten zu schleudern. Eine verzweifelte Tat, die nicht wirkungslos blieb. Hustend fiel der Unbekannte etwas zurück, womit sich für den Dieb eine Gelegenheit ergab.

Mit der Hoffnung kam auch die Kraft. Es gelang Bleuciel sich auf den Rücken zu drehen. Dabei blickte er in die wutverzerrte Fratze des Mannes, von dem er glaubte, dass dieser in einem Gefängnis schmorte.

„Da staunst du, Bürschchen", knurrte der Sträfling, nachdem er die Verwunderung in Bleuciels Augen abgelesen hatte. „Wie gut, dass die Kutsche einen Schaden erlitten hat. Das Schicksal steht auf meiner Seite", setzte er während des Aufstehens fort.

Die Information über die Kutsche hämmerte sich Bleuciel in den Kopf. Dutzende Fragen gingen mit ihr einher, blieben der gegenwärtigen Gefahr wegen jedoch unbeantwortet. Für ihn, dessen Leben auf der Kippe stand, zählte nur, das selbige mit allen Mitteln zu beschützen. Sein Verstand, der unter dem Stress nur bedingt funktionierte, erinnerte sich plötzlich an das Messer, das Bleuciel stets bei sich trug.

Hektisch fummelte der Dieb an sich herum, um die Waffe an sich zu nehmen. In seiner derzeitigen Rückenlage, fiel das hantieren damit aber schwer. So versuchte er sich aufzusetzen, wobei ihm sein Gegner das Messer mit einem kräftigen Tritt aus der Hand feuerte. Dem zu Beginn recht scharfen Schmerz, kam ein Taubheitsgefühl einher, welches Bleuciel notgedrungen zu ignorieren versuchte. Er spürte, wie ihm der Schweiß trotz der Kälte über die Stirn lief und dass sein Herz seit geraumer Zeit gegen die Brust trommelte.

Wo genau das begehrte Messer gelandet war, hatte keiner der beiden richtig gesehen. Dies betreffend konnten nur Mutmaßungen angestellt werden. Nichts desto trotz rannte der Sträfling ein paar Meter voran, um in Eile danach zu suchen. Während Bleuciel das sah, dämmerte ihm die Einsicht, dass der Fund dieses Messers seinen garantierten Tod bedeuten würde. Wie von Sinnen warf sich der Dieb gegen die Beine des Mannes, um ihn zu Fall zu bringen.

Was anschließend folgte, war eine wilde Rangelei, bei der sie rücksichtslos aufeinander einprügelten. Die Schläge des bulligen Sträflings hatten es in sich, weshalb Bleuciel zwischenzeitlich glaubte mit einem rasenden Keiler zu ringen. Da er selbst von eher normaler Statur war, konnte er der rohen Kraft seines Gegners nur wenig entgegenbringen. Fast wirkte es so, als würde die Faust von Bleuciel nur einen geringfügigen Schaden verursachen. Die Frustration darüber schmerzte mindestens so sehr, wie die Treffer, die der zwanzigjährige im Zuge ihres Kampfes einstecken musste.

Ein Hieb, der Bleuciel an der Schläfe traf, führte zu einer kurzweiligen Benommenheit, welche ihm rasch zum Verhängnis wurde. Ihretwegen gelang es dem Sträfling, Bleuciel ein weiteres Mal auf den Bauch zu befördern. Bevor sich der Betroffene darüber im Klaren werden konnte, fühlte er den Arm, der sich wie eine Schlinge von hinten um seinen Hals legte und ihm nun augenblicklich die Luft abschnürte.

Ein nahezu erbärmliches Röcheln entfloh Bleuciels geöffnetem Mund. Durch das Zudrücken seiner Kehle gelangte kein Sauerstoff mehr in seine Lungen, was schon bald einen Schwindel zur Folge hatte. Mit erstickten Lauten trommelte er auf den lebendigen Strick, der sich wie eine Schlange um seinen Hals gewunden hatte.

Währenddessen entpuppte sich die Zeit zu Bleuciels größtem Feind. Je mehr davon verstrich, desto näher rückte er an den tiefschwarzen Abgrund, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Eine unwiderlegbare Erkenntnis, die den Mann in Angst und Schrecken versetzte. Die aufkeimende Panik lähmte seinen Verstand und nötigte ihn dazu, Fehler zu machen. So geschah es, dass er sinnlos um sich schlug, anstatt seine Kräfte zu sparen.

Nach und nach verschwamm Bleuciels Sicht. Er stieß an den Rand der Bewusstlosigkeit. Fürchten zu müssen, dass das Leben ein unerwartetes und zugleich vorzeitiges Ende nahm, war derart grausam, dass es sich nicht mit Worten erklären ließ. Die Reue, die einen während der letzten Atemzüge noch begleitete, wirkte zudem wie Salz, welches man in eine offene Wunde gestreut hatte.

Oft wurde der Tod als die ewige Ruhe beschrieben, doch war der Weg dorthin alles andere als friedlich und ruhig.

Mit flackernden Augenlidern trat Bleuciel seinem Ende entgegen. Der Kampf war vorbei. Die Rache seines Peinigers hatte über ihn triumphiert. Das letzte, was Bleuciel glaubte noch zu sehen, war eine schemenhafte Gestalt, die geradewegs auf ihn zugelaufen kam.

Vermutlich der Sensenmann, dachte der Dieb, der diesen nicht weiter scheute. Schließlich wäre die Qual damit vorbei. Sofern man ihn seiner Taten wegen nicht in die Hölle schickte ...

Plötzlich verschwand der Arm um seinem Hals, wodurch der Sauerstoff jetzt ungehindert in seinen Rachen fließen konnte. Noch nie war Bleuciel so glücklich gewesen. Mit einem lauten Schnaufen sog er die Luft gierig in sich hinein, um seine Lungen großzügig zu befüllen. Er riss die Augen weit auf, sah derweil nach oben und entdeckte Alexandre Morel, welcher besorgt auf ihn hinabgeblickt hatte.

Wie sich herausstellte, war sein Retter nicht allein. Der Gendarm, dessen Aufgabe die Überwachung des Sträflings gewesen war, hatte den Kolben seines Gewehrs genutzt, um diesen mit einem deftigen Schlag an den Kopf in das Land der Träume zu befördern.

„Ist alles in Ordnung?", hörte man Morel sagen.

Dass die Frage Bleuciel gegolten hatte, war diesem nicht klar. Noch immer lasteten Angst und Verwirrung auf seinem Verstand. Hinzukam, dass sein Körper zu zittern begann, weshalb ihm Morel vorsichtig auf die Beine half.

„Langsam Monsieur", beschwichtigte dieser. „Sie müssen sich von dem Schock erholen. Gestatten Sie mir, Ihnen dabei behilflich zu sein." Kurz galt seine Aufmerksamkeit dem Polizisten. „Sie kommen zurecht, Monsieur?", fragte er, woraufhin der Uniformierte nickte.

„Ich habe den Hund gefesselt. Der Kutscher sollte auch in Bälde hier eintreffen."

„Dann werde ich mich jetzt um diesen Mann hier kümmern", entgegnete Morel.

Dagegen zu protestieren, kam für Bleuciel derzeit nicht in Frage. Vielmehr war er froh um die Hilfe, die man ihm zuteilkommen ließ. Unbewusst lehnte er seinen Kopf gegen Morels Brust und war dankbar für die Wärme, die von dieser ausging. Sie verleitete den Dieb dazu sich gehenzulassen. Für einen kurzen Moment schloss Bleuciel seine Augen, um dem rhythmischen Herzschlag seines Retters zu lauschen.

„Können Sie gehen?", fragte Morel, der geduldig auf das Nicken von Bleuciel wartete. „Dann folgen Sie mir bitte. Ich werde so frei sein, Sie zu stützen."   

Le cour voléWo Geschichten leben. Entdecke jetzt