Dunkle Wolken ziehen auf

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Gegen neun Uhr, was Bleuciel dank seiner hübschen Taschenuhr in Erfahrung bringen konnte, verließ er mit Monique im Schlepptau die Stadt. Die fehlenden Reitkenntnisse zwangen ihn dazu, sie neben sich herlaufen zu lassen. Er hielt ihre Zügel in der Hoffnung, dass sie den Weg bis zum Anwesen unbeschadet überstehen würden.

Unterdessen wurde der Himmel von ein paar dicken Wolken durchzogen, die sich gemächlich vor die Sonne legten. Dadurch sank die Temperatur, die sich aufgrund der Windböen niedriger anfühlte, als sie tatsächlich war. Fröstelnd ergriff Bleuciel die Ränder seines Gehrocks, um sie beisammen zu führen. Er liebäugelte mit der Vorstellung, ihn zuzuknöpfen, entschied sich wegen der eingeschränkten Bewegungsfreiheit jedoch dagegen.

Um es Monique möglichst angenehm zu machen, folgte Dubois dem Trampelpfad, an dessen Seiten die Blumenwiesen wucherten. Hier und dort gesellten sich ein paar Sträucher und Bäume hinzu, die sich im Zuge des Winds neigten und ein sanftes Rascheln von sich gaben. Eine malerische Atmosphäre, die plötzlich von einem ohrenbetäubenden Schuss durchrissen wurde.

Der charakteristische Klang führte bei Bleuciel zu einer Panikattacke. Er stürzte gen Boden und warf die Arme über den Kopf. Zeitgleich war es Monique, die durch den Schuss aufgeschreckt worden war und sich mit einem schrillen Wiehern auf die Hinterbeine stemmte, ehe sie blindlinks davongaloppierte.

Sie sind gekommen, um mich zu holen, dachte Bleuciel, dem das Herz bis zum Halse schlug. Er hörte sich selbst hastig nach Luft schnappen, sodass ihm zeitweise schwindelig wurde. Die Angst, die ihre Fangzähne in ihn geschlagen hatte, paralysierte seinen Körper und blockierte seinen Verstand. Es gelang ihm nicht, aufzusehen, da er fürchtete, alsdann in die Mündung einer Waffe zu starren. Was dem ersten Schuss misslungen sein mochte, würde der zweite mit präziser Ausführung korrigieren. Eine Horrorvorstellung, die den Dieb in Gänze vereinnahmt hatte.

Letztendlich war es das Gefühl simpler Regentropfen, die Bleuciel aus seinem Schockzustand befreiten. In der Dunkelheit öffneten sie ihm eine Tür, durch die er in das Licht schreiten konnte. Vorsichtig entfernte er die Hände über seinem Kopf. Er blickte nach oben und stellte fest, dass niemand außer ihm zugegen war. Keine Soldaten, die Bleuciel seines Lebens berauben wollten. Bloß ein paar graue Wolken, die ihren Inhalt auf die Erde hinabfallen ließen. Die Erleichterung darüber verhalf ihm zurück auf die Beine. Während Dubois den Dreck von seiner Kleidung schlug, nahm der Regen über ihm zu. Nachdem sich sein Geist hinreichend beruhigt hatte, galt seine Sorge Monique. Sie wiederzufinden, dürfte sich als enorme Herausforderung herausstellen. Das hielt den Dieb jedoch nicht davon ab, es zu versuchen.

~~

Etwa zur gleichen Zeit, in der Bleuciel durch die regnerische Landschaft irrte, hatte man Perceval zurück in das Anwesen gebracht. Sobald die Fesseln und der Leinensack entfernt worden waren, stürmte der Künstler in das Innere des Chateaus, um dort nach seinem Vater zu suchen. Wenig später fand er diesen in der großen Bibliothek, wo der grimmig dreinblickende Mann gerade damit beschäftigt war, sich durch eines der dicken Bücher zu wälzen. Bei Ankunft seines Sohnes legte er das Band zurück an seinen Platz.

„Nicht zu fassen", schnaufte Perceval, der den Weg bis zur Bibliothek durchweg gerannt war. „Eure Schergen werden mit jedem Mal brutaler, Vater! Wie könnt Ihr dies gutheißen?! Denkt Ihr nicht, dass das zu weit geht?"

Bernard, der währenddessen auf ihn zugegangen war, verzog indes keinerlei Miene. Erst nachdem er Perceval erreicht hatte, äußerte er seinen Unmut, indem er seinem Sohn eine schallende Ohrfeige verpasste. Die Wucht schleuderte Percevals Kopf zur Seite. Zudem verursachte der Schlag ein lautes Klatschen und hinterließ auf der Wange des Betroffenen einen bleibenden Eindruck, der sich rasch in Form eines roten Flecks manifestierte.

Der brennende Schmerz trieb Perceval Tränen in die Augen. Trotz allem biss er die Zähne zusammen, um keinen Mucks von sich zu geben. Diese Genugtuung würde er seinem alten Herrn gewiss nicht liefern.

„Ein solch respektloses Verhalten dulde ich nicht!", schrie Bernard mit furchteinflößender Stimme. Tiefe Zornesfalten prägten das Gesicht des Grauhaarigen, während er weiter wütete. „Mein missratener Sohn scheint den Bezug zur Wirklichkeit verloren zu haben. Ihr bringt Schande über den Namen de Rouyer!" Dabei fiel sein Augenmerk auf die schmutzigen Klamotten, sowie das Haar, in dem an vereinzelten Stellen etwas Heu hinausragte. „Und was fällt Euch überhaupt ein, so auf die Straße zu gehen?! Ist es das, was ich Euch all die Jahre über beigebracht habe?!"

Es folgte eine weitere Ohrfeige, die Perceval vor Schmerz aufstöhnen ließ. Er taumelte etwas zurück und spürte zugleich, wie sein Herz aufbegehrte. Nicht länger wollte er diese Tortur über sich ergehen lassen. In seiner blinden Raserei ließ Bernard den Sohn jedoch nicht zu Wort kommen.

„Ich habe genug davon! Eure kindischen Träumereien enden hier, mein Sohn! Von nun an wird sich einiges ändern!"

Da selbst Bernard mal Luft holen musste, gelang es Perceval dazwischenzufunken.

„Hört auf mich nach Eurem Willen zu formen, Vater!", schimpfte er. „Ihr könnt nicht ändern, wer ich bin."

„Kann ich nicht?", erwiderte Bernard mit einer derartigen Ruhe, dass es selbst Perceval die Sprache verschlug. „Dann lasst mich Euch mitteilen, dass Ihr in Bälde heiraten werdet."

Eine Ankündigung, die den Künstler kurzzeitig schwanken ließ. Er bezweifelte, dass sein Vater die Wahrheit sprach. Eine solch dreiste Tat würde nicht mal Er zu Stande bringen, oder?

„Das ist nicht Euer Ernst, Vater", äußerte Perceval, erschrocken darüber, wie brüchig seine eigene Stimme klang.

„Ich habe mir Eure Ausschweifungen lange genug mit ansehen müssen. Euch die alleinige Verantwortung zu überlassen, wäre töricht von mir. Ich habe die perfekte Frau gefunden, die das Vermächtnis mit Stolz und Klasse weiterführen wird. Sie wird dafür sorgen, dass unser Name auch in Zukunft für Erfolg und Wohlstand stehen wird. Und Ihr, Sohn, werdet Euch dem fügen."

„Kommt nicht in Frage", widersprach Perceval mit einem energischen Kopfschütteln. „Ihr könnt mich nicht dazu zwingen, Vater. Ich weigere mich Eurem Wunsch Folge zu leisten. Mein Leben ist das eines freien Künstlers!"

„Also gut", sagte Bernard, der sich gelassen über den Ärmel seines maßgeschneiderten Gehrocks strich. „Dann geht, mein Sohn. Wenn es das ist, wonach es Euch verlangt, werde ich Euch nicht im Wege stehen. Bedenkt aber, dass Ihr dieses Haus fortan dann nicht mehr betreten dürft. Zudem werde ich Euch enterben, sodass Ihr ganz auf Euch allein gestellt sein werdet. Wohlgemerkt mit keinem einzigen Sou in der Tasche."

Percevals Schwachstelle war so offensichtlich, dass Bernard nur hineinzustechen brauchte. In seinen nunmehr zweiundzwanzig Jahren musste sich Perceval noch nie um finanzielle Angelegenheiten sorgen. Stets hatten ihm sämtliche Türen offen gestanden. Jedes vermeintliche Problem hatte er mit Geld gelöst. Komplett ohne auskommen zu müssen, schien ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.

„Wie sieht es aus?", fragte Bernard, um seinen Sohn zunehmend unter Druck zu setzen. „Werdet Ihr mich jetzt verlassen? Oder kann ich die Bediensteten damit beauftragen, die ersten Hochzeitsvorbereitungen zu fällen?"

In diesem Moment war Perceval so wütend und frustriert, dass ihm die Worte fehlten. Er brauchte sie nicht. An ihrer statt flossen die Tränen über die Wangen, von denen eine rot und geschwollen war. Sein herzzerreißendes Schluchzen würde Bernard auf ewig in Erinnerung bleiben.

Ein köstlicher Triumph, den der alte Mann in vollsten Zügen genoss.   

Le cour voléWo Geschichten leben. Entdecke jetzt