Der Gefangene, der in einer Kutsche bestehend aus Gitterstäben saß, war niemand geringeres, als der Dieb, vom dem Bleuciel am Morgen bestohlen worden war. Vor dem Gitter befand sich ein kleiner Sitz für Kutscher und Wachmann, an dem wiederum zwei Pferde gespannt waren. Der Gendarm, dessen Aufgabe darin bestand, den Sträfling an die nächste Polizeistation zu überbringen, nutzte den Moment, um den Verhafteten mit Hohn und einer Reihe von Beschimpfungen zu schikanieren.
Dieses Mal entschied Bleuciel einen genaueren Blick auf den Gauner zu werfen, da sein vorheriger Leichtsinn kein weiteres Mal die Oberhand gewinnen sollte.
Die zerschlissene Weste des Mannes, den Bleuciel auf Anfang dreißig schätzte, erweckte bei Außenstehenden den Eindruck eines Tagelöhners. Die Erdflecken auf der Hose sprachen ebenfalls dafür. Selbst die Schuhe waren derart abgenutzt, dass nur ein solcher Lebensumstand in Frage kam.
Dubois überlegte, weshalb man den bedauernswerten Mann festgenommen hatte und welcher Verbrechen dieser beschuldigt wurde. Womöglich stahl er aus denselben Gründen, wie Bleuciel. Um zu überleben. Genauso gut könnte es sein, dass der Gesetzlose die Steuern nicht bezahlt hatte oder eines Mordes wegen angeklagt war. Bei letzterem lief es Bleuciel eiskalt den Rücken hinab. Er selbst hatte noch nie gemordet und reagierte nur bei höchster Bedrängnis mit Gewalt.
Während Dubois weiteren Spekulationen nacheiferte, erschien eine Frau, die beim Anblick des Gendarmen eilig aus der Stadt gelaufen kam. Ihr Anliegen schien keinen Aufschub zu dulden, da sie bei Ankunft direkt darauf los plapperte.
"Wie gut Sie hier zu treffen, Monsieur", schnaufte sie mit geröteten Wangen. "Ich benötige Ihre Hilfe. Mein Mann ..."
"Bedauere, Mademoiselle", unterbrach der Polizist. "Ich darf den Gefangenen nicht aus den Augen lassen."
Ungläubig betrachtete die stattliche Dame den Betroffenen, wegen dem ihre eigenen Interessen zurückgewiesen wurden.
"Das kann nicht Ihr Ernst sein", beklagte die Frau, die sich offenbar beleidigt fühlte. "Er trägt eine Fußfessel, Monsieur. Was soll da Ihrer Meinung nach passieren?"
"Meine Pflicht ist es ...", begann der Gendarm, der nun seinerseits unterbrochen wurde.
"Sehr wohl. Ihre Pflicht ist es, Bürgern in Not zu helfen. Sollten Sie dies vernachlässigen, werde ich mich höchstpersönlich beim Bürgermeister über Sie beschweren."
Etwas, worauf es der Uniformierte nicht anlegen wollte. Grummelnd sah dieser zu dem Gefangenen, der die Szene mit sichtlichem Erstaunen beobachtet hatte.
"Du bleibst brav da hocken, kapiert?!", schnauzte er den Sträfling geradewegs an. "Ich bin gleich wieder zurück", fügte er zu Freuden der Dame hinzu.
Bleuciel, der nach wie vor am Busch kauerte, sah den beiden Gestalten hinterher. Einen Gefangenen ohne Aufsicht zurückzulassen, war überaus gefährlich und leichtsinnig noch dazu. Für den Dieb hingegen bot es die optimale Gelegenheit, um unbemerkt an die Kutsche herantreten zu können.
Mehrmals blickte Bleuciel sich um, bevor er eiligen Schrittes zu dem Gefangenen ging. Als dieser ihn bemerkte, schlug er sich selbst auf den Oberschenkel.
"Pah! Wenn das nicht der diebische Händler von heute Morgen ist! Du bist es, der an meiner statt hier drin versauern sollte."
"Meine zwei Francs", zischte Bleuciel, ohne auf die Bemerkung einzugehen. "Ich will sie zurück."
Lachend fuhr sich der Schurke durch sein krauses hellbraunes Haar. "Was lässt dich glauben, dass ich immer noch im Besitz deines Geldes bin, Bürschchen?", fragte er, wobei er die Arme vor seiner kräftigen Brust verschränkte. "Man hält mich nicht zum Vergnügen hier drin fest."
"Den Diebstahl von heute Morgen hat niemand beobachtet", beharrte Dubois. "Der Gendarm weiß nichts von den zwei Francs. Nun rück sie schon heraus."
"Sonst was?", entgegnete der Verbrecher, den diese Konfrontation köstlich zu amüsieren schien. "Willst du mich festnehmen?"
Es folgte ein brüllendes Gelächter, welches die Kutsche kurzweilig zum Beben brachte.
"Wie wäre es, wenn ich dich stattdessen freiließe?", konterte Bleuciel, wobei er den Schlüssel wie eine Trophäe nach oben hielt. "Alles was ich hierfür verlange, sind meine zwei Francs."
Die harte Miene, die der Schurke bisweilen aufrechterhalten hatte, bröckelte angesichts des kostbaren Fundes. Mit offenem Mund starrte er auf den kleinen Schlüssel, der für ihn von so großer Bedeutung war.
Der Gefangene wagte es nicht zu blinzeln. Offenbar fürchtete dieser, dass der Schlüssel sonst wieder verschwinden könnte. Bleuciel beobachtete ihn dabei, wie er nebenbei aus seinem Schuh schlüpfte, um die begehrten zwei Francs daraus hervorzuholen.
„Also gut, Bursche", sprach der Gauner aus seiner Zelle heraus. „Wie du siehst, bin ich noch im Besitz deiner zwei Francs, drum gib mir den Schlüssel, damit ich dich angemessen dafür entlohnen kann."
„Nein", widersprach Bleuciel hartnäckig. „Das Geld gehört ohnehin mir." Dabei warf er einen Blick in Richtung des Stadttores. „Gewiss wird der Gendarm bald wiederkehren. So handelt rasch, bevor ich es mir anders überlege", drängte er, woraufhin sich der Gesichtsausdruck des Gefangenen verfinsterte.
Einen Moment lang schien der Mann mit sich zu hadern. Welchen Entschluss er fassen sollte, konnte er trotz seiner misslichen Lage nur schwer beantworten. Das Geld zu übergeben, bedeute zugleich, das Vertrauen in einen Fremden setzen zu müssen. Eine Tatsache, die dem Schurken missfiel.
„Schnell", mahnte Bleuciel. „Oder ich gehe."
„Zum Teufel", knurrte der Gefangene, als er Dubois die zwei Francs durch das Gitter reichte. „Und jetzt her mit dem Schlüssel!"
Erleichtert verstaute Bleuciel das Geld. Anschließend wusste er, was zu tun war, konnte die simple Tat jedoch nicht über sich bringen. Wie versteinert verharrte er vor der Kutschte, in der sein Gegenüber zu wüten begann.
„Nun her mit dem Schlüssel!", rief dieser erbost. Er streckte die Hand durch das Gitter, sodass der Dieb vor Schreck nach hinten taumelte. „Wird's bald, du mieser Hund!"
Woher rührte die plötzliche Unentschlossenheit? Für Bleuciel wäre es ein Einfaches, den Schlüssel zu übergeben. Er fühlte den kalten Stahl zwischen seinen schwitzigen Fingern, doch wirkte es beinahe so, als hielte ihn eine unsichtbare Hand davon ab.
Nur am Rande vernahm er das tobende Gebrüll des Mannes, der wie ein wildes Tier an seinem Käfig rüttelte. Die Befürchtungen, die Bleuciel jetzt durch den Kopf schwirrten, wurden immer lauter, sodass er diese nicht länger zu ignorieren vermochte. Sie warnten ihn davor, den Gefangenen zu befreien.
Warum dieser in Haft war, konnte Dubois nicht wissen. Die Furcht davor, einem vermeintlichen Mörder zur Flucht zu verhelfen, wog schwerer, als seine Hilfsbereitschaft ihm gegenüber. Zudem bestand die Gefahr, dass der verwendete Schlüssel früher oder später auf Bleuciel zurückfallen könnte. Was die Ermittlungen betraf, war so mancher Gendarm ziemlich beharrlich, weshalb Bleuciel dem Gauner trotz wüster Beschimpfungen den Rücken zukehrte.
„Ich schwöre dir!", schrie der Gefangene. „Dass ich dich dafür bluten lassen werde, du miese Ratte!"
Bleuciel aber ignorierte die Drohung, die sein Innerstes trotz dem in Aufruhr versetzte. Ob er die richtige Entscheidung gefällt hatte, blieb vorerst ungewiss. Zunächst galt es nur einen klaren Kopf zu bekommen, weswegen er jetzt ohne weiteres Zögern in die Stadt zurückkehrte.
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Le cour volé
Short StorySchon als Kind war Bleuciel auf sich allein gestellt, weshalb ihn die Not zu einem Dieb heranwachsen ließ. Als nunmehr 20-jähriger bestimmen Misstrauen und soziale Unbeholfenheit über sein Leben. Auf seinen Beutezügen durch Frankreichs Städte des 19...