Die Kostprobe

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Noch immer glaubte Bleuciel die Hand von Morel auf seinem Oberschenkel zu spüren. Seitdem dies geschehen war, lag etwas Seltsames in der Luft, über das sich nicht mehr hinwegtäuschen ließ. Schweigend verharrte Bleuciel auf seinem Platz, wobei seine Aufmerksamkeit dem Holztisch galt. Währenddessen erinnerten ihn die Schmerzen daran, dass er vor kurzem in einem Kampf verwickelt gewesen war.

Morel, der zwischenzeitlich verschwunden war, kehrte mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern zurück. Diese platzierte der Mann auf dem Tisch. Ihn anzusehen, wagte Bleuciel indes nicht, da er sich zu sehr vor den möglichen Konsequenzen fürchtete. Zu seinem Glück beließ es Morel vorerst dabei.

Die gemeinsame Küche des Hauses befand sich im hinteren Teil des Flurs, aus dem Madame Petit jetzt wiederkehrte. Mit ihren knochigen Fingern trug sie einen Eintopf vor sich her.

„Wenn ich gewusst hätte, dass ein Gast zugegen ist", sagte sie an Morel gerichtet. „Hätte ich heute Morgen etwas mehr gekocht." Schuldbewusst lud sie den Topf auf den Tisch. Ich werde noch etwas Brot und Schinken aus dem Keller holen."

„Habt Dank, Madame Petit. Ich kümmere mich um das Besteck."

Bleuciel fühlte sich wie ein Zuschauer, der einem Theaterstück beiwohnte. Die Frage war bloß, wann er zu applaudieren hatte. Dass sich die beiden so rührend um ihn kümmerten, löste zudem ein fremdartiges Gefühl in ihm aus. Zum ersten Mal glaubte er so etwas wie Wärme in seinem Herzen zu spüren. Ein Empfinden, das er zuletzt als Kind wahrgenommen hatte. Beinahe wäre es für immer in Vergessenheit geraten.

In diesem Augenblick dachte Bleuciel an das Geld, das er gestohlen hatte. Was war das bloß für ein Schmerz, der bei diesem Gedanken mit einherging? Es war keine körperliche Pein. Vielmehr schien es sich dabei um eine schwere Last zu handeln, die nun permanent auf seinen Burstkorb drückte. Was Bleuciel nicht wusste, war die Tatsache, dass er zum ersten Mal ein schlechtes Gewissen bekam.

„Damit wäre alles angerichtet", äußerte Madame Petit, nachdem sie das Brot und den Schinken hinzugefügt hatte. „Ich wünsche den Herren einen guten Appetit und eine geruhsame Nacht."

„Haben Sie Dank, Madame Petit. Das wünschen wir Ihnen auch", entgegnete Morel. Er wartete, bis die Frau verschwunden war, bevor er sich zu Bleuciel an den Tisch setzte. „Nur zu", sagte Morel. „Sie brauchen sich nicht zurückzuhalten."

„Danke Monsieur", murmelte Dubois, als er den Löffel nahm

Der Eintopf verströmte derweil einen verführerischen Duft. Nach einer ersten Kostprobe war Bleuciel kaum noch zu bändigen. Gierig schaufelte er das köstliche Essen in sich hinein. Er vergaß die Außenwelt und merkte nicht einmal, wie er von Morel dabei beobachtet wurde. Nachdem vom leckeren Eintopf nichts mehr übrig war, gönnte sich der Dieb ein Stück Brot und Schinken, welches er ebenfalls binnen weniger Augenblicke vertilgt hatte.

Amüsiert neigte Morel seinen Kopf. „Ich nehme an, dass Ihnen das Mahl gemundet hat, Monsieur?"

Räuspernd nickte Bleuciel ihm zu. „Das hat es, Monsieur. Danke."

Zufrieden nippte Morel an seinem Wein. „Dann seien Sie doch so gut, mich zu begleiten", sagte er, wobei er zu dem Sofa blickte. „Am Kamin ist es wesentlich gemütlicher."

Da sich dagegen nichts einwenden ließ, folgte Bleuciel dem Mann, um sich gemeinsam mit ihm auf das Sofa zu setzen. Die einst gelbliche Farbe war verblasst und der Bezug wies vereinzelte Risse auf. Dennoch war das Sitzen darauf relativ bequem. Hinzukam das prasselnde Feuer des Kamins, das eine wohlige Wärme spendete und eine beruhigende Wirkung ausübte.

Morel - der sich nach rechts zu Bleuciel gewandt hatte - saß nun mit einem angezogenen Bein auf dem Sofa, während das andere zu Boden ging. Den rechten Ellenbogen hatte er auf die Rückenlehne des Sofas gelegt, sodass er den Kopf seitlich geneigt auf die geballte Faust stützen konnte.

„Eure Schläfe", bemerkte Morel, wobei die Finger seiner linken Hand behutsam über die genannte Stelle strichen. „Ist rot und etwas geschwollen. Das Werk des Sträflings, nehme ich an?"

„... So ist es", erwiderte Bleuciel nach anfänglichem Zögern. Die Berührung machte ihn nervös. „Bitte Monsieur, Ich ..."

„Shh, ist schon gut", wisperte Morel, dessen Augen nach Blickkontakt suchten. „Lasst es einfach geschehen."

Sachte glitten die Finger über die Wange, bis sie das stoppelige Kinn erreichten. Sie weilten einen Moment an dieser Position, bevor sich der Daumen über Bleuciels Unterlippe wagte.

Ein Geschehen, gegen das der Dieb wehrlos war. Ihm klopfte das Herz bis zum Hals. Er fragte sich, wohin dies noch führen sollte und wie weit Morel beabsichtigte zu gehen.

„Eure Augen sind wunderschön", hauchte Morel. „Ich könnte stundenlang hineinsehen, ohne mich daran sattzusehen." Mit einem Mal lehnte er sich etwas nach vorn, sodass Bleuciel von einer heißkalten Welle überrollt wurde.

„W-Was habt Ihr vor?", fragte der Dieb mit einer Unschuld, die Morel schmunzeln ließ.

„Ahnt Ihr dies nicht?", entgegnete dieser, da er das Spiel insgeheim ein wenig genoss.

Schwer schluckend erstarrte Bleuciel in seiner Bewegung. Verunsicherung machte sich breit. Er hielt den Atem an, ohne zu einer Antwort fähig zu sein.

„Wenn dem so ist, möchte ich Ihnen auf die Sprünge helfen", setzte Morel mit sinnlicher Stimme fort, bevor er Bleuciel auf bestimmende Weise zu sich zog, um ihn zu küssen.

Als die Lippen des Mannes seine eigenen berührten, verspürte Bleuciel ein heftiges Kribbeln im Bauch. Wie wild trommelte das Herz gegen die Brust, während das Blut regelrecht durch seine Ohren rauschte. Es schien, als wäre die Zeit um sie zum Erliegen gekommen. Der Geruch von Wiese und Tabak strömte Bleuciel in die Nase. Erfolglos versuchte der Dieb, die tausend Gedanken in seinem Kopf zu sortieren.

Währenddessen wagte Morel einen weiteren Schritt, indem er mit seiner Zunge um Einlass bat. Dabei lehnte er sich weiter nach vorn, bis ihm Bleuciel nichts mehr entgegensetzen konnte. Ein Spalt tat sich auf, den Morel für seine Zwecke nutzte. Somit ließ er die Zunge nun ungehindert in die noch unerforschte Mundhöhle gleiten.

Der arme Bleuciel war derart überfordert, dass ihm ein ungewolltes Stöhnen entfloh. Auf derart freche und erotische Weise geplündert zu werden, setzte seinem Verstand ganz schön zu. Das permanente Kribbeln verweilte nicht länger nur in seinem Bauch. Vielmehr suchte es sich seinen Weg in die unteren Regionen, sodass sich die Männlichkeit zwischen den Beinen zu regen begann. Hitze keimte auf, die bei Bleuciel einen Rotschimmer auf den Wangen zur Folge hatte. Mit letzter Kraft gelang es dem Dieb, Morel unter hektischer Atmung von sich zu drücken.

„D-Das ...", stammelte Bleuciel irritiert.

„Verweigern Sie nicht das, wonach Sie in Wahrheit begehren", keuchte Morel betört. „Ich spüre, dass Sie es wollen, Monsieur."

„Doch bin ich ein Mann", widersprach Bleuciel. „Genau wie Sie."

„Das schmälert mein Interesse für Sie nicht im Geringsten", gestand Morel. „Und ich lese in Ihren Augen, dass auch Sie demselben Geschlecht nicht abgeneigt sind. Wehren Sie sich nicht länger dagegen."

Es entstand ein Moment des Schweigens, in dem nur das Knistern des Feuers vernommen werden konnte. Bleuciel wusste nicht, was hier geschah. Mit Logik ließ sich das Ganze nicht mehr erklären. Bevor sein Verstand einsetzen konnte, ließ sich Bleuciel ein weiteres Mal küssen und dieses Mal ging der Dieb vollends darauf ein.

Le cour voléWo Geschichten leben. Entdecke jetzt