Wolf
Wolf nahm eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, öffnete sie und nahm sie mit hinaus auf das Deck seines Hausboots. Der Abend war überraschend warm für Mai und er setzte sich in den alten Metallstuhl, den er vom Vorbesitzer übernommen hatte. Auf dem kleinen Tisch neben ihm lag bereits sein Skizzenblock, dazu eine Tüte Honig-Lakritze aus dem Süßwarenladen im Zentrum. Nach dem Erfolg ihres ersten Flash Sales hatte er sich diese kleine Besonderheit geleistet.
Er nahm sich eine der Lakritze-Figuren und ließ sie auf der Zunge zergehen. Ein kleines Boot fuhr vorbei, vermutlich Studenten, die Männer mit Bierflaschen und die Frauen mit Sektgläsern in der Hand. Sie lachten und scherzten und verschwanden dann aus seinem Blickfeld. Die tief stehende Sonne tauchte die Gracht in Goldtöne, das Wasser plätscherte leise an den steinernen Mauern und Wolf schloss die Augen und atmete tief ein.
Er liebte Abende wie diese. Ruhig und gemütlich, Abende an denen er sich um nichts anderes kümmern musste, als um sich selber. Und doch... gerade an Abenden wie diesen, wenn eigentlich alles so war wie es sein sollte, nagte ein Gefühl von Einsamkeit an ihm. Es war nicht so, dass er einsam war, wenn er alleine war. Im Gegenteil, er mochte es, wenn er alleine war. Das hieß aber nicht, dass er es nicht vermisste, jemanden an seiner Seite zu haben. Jemanden, mit dem er Reden konnte, der für ihn da war. Jemanden, dem er seine Sorgen anvertrauen konnte, ohne ausgelacht zu werden.
Und ja, er vermisste die Intimität von einer Beziehung. Schon seit seiner Teenagerzeit wusste Wolf, dass er nicht für One-Night-Stands gemacht war. Klar hatte er es ein paar Mal ausprobiert, aber schneller Sex ohne jegliche Gefühle fühlte sich für ihn an wie ein Geschäft. Zeit, Ort und Methode wurden vereinbart, dann ging es zur Sache und hinterher sah man sich kaum an und ging wieder seiner Wege. Nein, das war nichts für ihn.
Er dachte zurück an seine letzte Beziehung. Sie waren kaum ein halbes Jahr zusammen gewesen, bevor sich alles totgelaufen hatte. Im Nachhinein war ihm klar geworden, dass er von Anfang an gewusst hatte, dass es nicht die große Liebe war. Aber er hatte gehofft, dass sich die Gefühle noch weiter entwickeln würden. Dass aus einer Verliebtheit echte Liebe werden würde. Das war aber nicht passiert, im Gegenteil. Die anfängliche Schwärmerei war der Gewohnheit gewichen und am Ende war nichts als ein wenig Zuneigung geblieben.
Matty dagegen schien das große Los gezogen zu haben. Zwar hatte er dessen festen Freund noch nicht kennengelernt, aber Pearl hatte fallen lassen, dass Matty und sein Freund schon gute zwei Jahre ein Paar waren und sich davor schon eine Weile gekannt hatten. Und dabei war Matty nicht viel jünger als er. Zweiundzwanzig? Dreiundzwanzig? Er musste seinen Partner sehr früh kennengelernt haben, wenn sie schon so lange zusammen waren.
Bei dem Gedanken an Matty seufzte Wolf und öffnete die Augen. Matty...er hatte seinen Nachbarn heute Abend wieder in der Bäckerei tanzen sehen. Diesmal zu Musik von ABBA. Gab es da nicht auch ein Musical? Matty hatte gesungen, den Wischmopp geschwungen und mit den Hüften gewackelt. Er hatte dabei so fröhlich ausgesehen, dass Wolf unwillkürlich hatte lächeln müssen. Matty schien das Leben so zu nehmen, wie es kam, er verstellte sich nicht. Er stand dafür ein, wie und was er war. Er hatte sogar eine neue Pride Flagge über die Tür gehängt.
Wolf nahm einen Schluck von seinem Bier und sah über die Gracht. Er dahingegen verschwieg seiner Kundschaft und der Welt im Allgemeinen seine Vorlieben. Natürlich wusste Pearl Bescheid und seine wenigen Freunde. Aber er hängte es nicht an die große Glocke. Das wäre schlecht fürs Geschäft. Vermutlich würde Matty nie mit jemanden wie ihm zusammen sein wollen. Matty war offen und lustig und er war das genaue Gegenteil.
Mit einem tiefen Seufzen nahm sich Wolf seinen Skizzenblock. In Trübsal versinken konnte er auch noch, wenn es dunkel war. Aber er war nicht hier raus aufs Deck gekommen, um jetzt untätig herumzusitzen. Das Abendlicht wollte er nutzen, um an seinen Entwürfen zu arbeiten. Ein potentieller Kunde hatte angefragt, ob er ein Schultertattoo designen könnte, dass aussah, als ob er ein Cyborg wäre. Wolf hatte schon zwei Entwürfe erstellt, aber damit war er nicht zufrieden. Vielleicht gelang ihm heute Abend ein passabler Entwurf.
Doch schon nach wenigen Minuten knüllte er das Papier zusammen und warf es übers Deck. Nochmal. Sein Stift fuhr über das Papier, zeichnete, schraffierte, strich durch. Cyborg...was sollte das eigentlich bedeuten? Wer wollte schon ein Cyborg sein? Hatte das was mit Star Trek zu tun? Oder dem Terminator? Gab es da nicht ein Musical bei dem die Schauspieler einen Zug darstellten? Starlight irgendwas. Ob Matty die Musik davon auch kannte und hörte? Matty würde sich bestimmt kein Tattoo machen lassen, damit er wie ein Cyborg aussah.
Was für ein Tattoo würde sich Matty wohl stechen lassen? Wolf grinste bei dem Gedanken. Vermutlich irgendwas mit Kuchen oder Gebäck. Oder das Logo seiner Bäckerei. Oder irgendwas Buntes das zu LGBTQ+ passte. Etwas, das der Welt zeigte, dass er war wie er war und dass das auch gut so war. Aber bestimmt keinen Cyborg.
Bei dem Gedanken fokussierte sich Wolf wieder auf seine Zeichnung. Er hielt verblüfft inne. Das war...gut. Er besah sich die Skizze von allen Seiten. Okay, hier und da musste er noch ein wenig verbessern, aber alles in allem war das Design richtig gut. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte auf die Zeichnung vor ihm.
Es war genau wie vor dem Flash gewesen, dachte er. Auch da hatte er eine Blockade gehabt und seine Designs waren nicht zufriedenstellend gewesen. Dann hatte er an Matty gedacht und bevor er es sich versah, hatte er wie am Fließband gezeichnet. Und jetzt wieder.
Das gabs doch gar nicht...
Mit Erstaunen stellte Wolf fest, dass Matty sein Mittel gegen seine Zeichenblockade war. Matty war seine...Inspiration. Darauf nahm er erst mal einen kräftigen Schluck von seinem Bier, bevor er eine ganze Handvoll Lakritze hinterherwarf. Nicht nur, dass Matty genau sein Typ war und dass er es nicht erwarten konnte, ihn abends beim Tanzen zu beobachten, nein, jetzt war er auch noch zu seiner Inspiration geworden.
Oh Mann....
Das waren genug Enthüllungen für einen Abend. Außerdem wurde es auf dem Wasser kalt. Wolf nahm seinen Block, sein Bier und die Lakritze und wollte gerade die Stufen nach unten ins Boot gehen, als etwas Klebriges an seinem Gesicht hängen blieb.
„Bah, bfff!" Wolf grunzte, taumelte und wischte mit dem Unterarm hektisch über sein Gesicht. Eine Spinnenwebe. Er hasste Spinnen. Schnell sah er sich um, doch den Übeltäter konnte er nicht entdecken. Mit einem letzten Blick um sich herum ging er nach Drinnen, dann schloss er die Tür. Die Spinnen sollten gefälligst Draußen bleiben.
DU LIEST GERADE
Tinte, Torte und Testosteron
RomanceMatty liebt seine kleine Bäckerei in Amsterdam. Das Leben wäre perfekt, wenn da nicht neben ihm ein Tattoostudio aufgemacht hätte! Und der Eigentümer Wolf erst! Dunkelhaarig, tätowiert und mit einem Motorrad. Matty weiß 100% dass es mit Wolf zu tun...