Wolf
Wolfs lange, schlanke Finger fuhren über das Papier. Strich für Strich entstand eine Zeichnung, ganz in schwarz und weiß, wie er es mochte. Draußen vor den Fenstern war es schon dunkel, die Tür zum Legendary war geschlossen. Pearl war schon vor Stunden gegangen, zu einem heißen Date, wie sie verkündet hatte. Wolf hatte ihr viel Spaß gewünscht, woraufhin sie ihm die Schulter getätschelt hatte. „Wenn du mal rausgehen würdest, könntest du auch Dates haben, weißt du?" hatte sie gesagt und er hatte nur müde genickt. Er wollte sein Liebesleben, oder die Abwesenheit desselbigen, nicht mit Pearl erörtern, so gern er sie auch mochte.
Es war ja nicht so, dass sie falsch lag. Aber in seiner Branche waren die meisten Kunden eher...schwierig, was das Thema Homosexualität anging. Sicher, er hatte auch Kunden, die sich kein bisschen darum scherten, aber die gingen meist zu Pearl auf den Stuhl, und nicht zu ihm. Er verschwieg nicht, dass er schwul war. Schon vor Jahren hatte er sich geoutet. Aber es war eben nicht so, dass er es der ganzen Welt zuschreien wollte. Er war eben zurückhaltend, was das anging. Das war seine Privatsache und so sollte es auch bleiben. Niemand ging es etwas an, thank you very much. Heteros outeten sich ja auch nicht.
Seine letzte Beziehung, wenn man sie denn so nennen konnte, war schon einige Monate her und hatte sich totgelaufen. Am Ende waren sie beide erleichtert gewesen, einen Schlussstrich ziehen zu können. Es hatte kein Drama gegeben, kein Geschrei und keinen Streit. Aber eben auch keine Leidenschaft, keine Liebe. Vielleicht, dachte Wolf und sah auf seine Zeichnung hinunter, war er dafür einfach nicht gemacht.
Anscheinend war er auch nicht dafür gemacht, Flash Tattoos zu entwerfen. Er zerknüllte die Zeichnung und nahm sich ein neues Blatt. Am Nachmittag hatte ihm Pearl ihre Entwürfe gezeigt und sie waren einfach fantastisch gewesen. Buchstäblich.
Für den Flash hatte sich Pearl für eine Mischung aus niedlicher Fantasy und brutaler Horror Fantasy entschieden. Ihre Drohung mit den Orks hatte sie zum Glück nicht wahrgemacht. Es gab niedliche feuerspeiende Drachen, kleine Zauberer mit spitzen Hüten und flauschige Waldkreaturen wie Eichhörnchen, Häschen und Eulen. Diese Figuren würde sie mit bunten Farben versehen. Als Wolf die Zeichnungen betrachtete, fühlte er sich in eine liebevolle Märchenwelt versetzt. Wenn Pearl es eines Tages leid war, spitze Nadeln in Menschen zu stecken, könnte sie Kinderbücher illustrieren.
Für die weniger sensiblen Geschmäcker hatte Pearl gruselige Hexenkessel im Repertoire, brennende Schwerter, vor Blut triefende Skelette und kopflose Reiter. Diese Tattoos waren hauptsächlich schwarz, rot und gelb und Wolf hatte schon ein paar Kunden im Kopf, denen diese Tattoos gut gefallen würden.
Doch als Pearl ihn nach seinen Entwürfen gefragt hatte, war er ausgewichen. Er sei noch nicht ganz fertig, hatte er gesagt. Unzufrieden mit seinen ersten Entwürfen. In Wahrheit hatte er noch nicht ein fertiges Flash Tattoo und die Zeit lief ihm davon. Verdammt, es war seine Idee gewesen! Und deswegen saß er jetzt hier, nach Feierabend, ein Bier neben sich und seinen Skizzenblock vor sich. Doch die Ideen wollten einfach nicht kommen.
Seine Tattoos waren immer einzigartig. Kein einziges Tattoo hatte er zwei Mal gestochen, denn er wollte, dass jeder Kunde ein Unikat bekam. Meist waren es mittelgroße bis große Bilder, an denen er tagelang feilte. Aber für den Flash brauchte er kleine, einfache Tattoos. Alles was er bisher für den Flash gezeichnet hatte, fand er immer noch zu aufwendig. Selbst sein kleinstes Bild brauchte über eine Stunde um gestochen zu werden. Bei dem Flash würde er die Zeit nicht haben. Außerdem waren seine Entwürfe...langweilig. Es fehlte ihnen an Flair, an Einfallsreichtum.
Der Flash musste gelingen. Er brauchte das Geld dringend für neue Farben und die Miete musste er schließlich auch bezahlen...
Wolf fuhr sich durch seine Haare und sah aus dem Fenster auf die dunkle Straße. Ein Grachtenboot fuhr vorbei, an Deck eine Lichterkette. Er sah ihm nach, dann fiel sein Blick wieder auf das Papier vor ihm. Ohne es zu merken streiften seine Gedanken ab. Was sein Nachbar jetzt wohl gerade machte? Die Bäckerei schloss immer schon viel früher als das Legendary und Wolf hatte schon ein paar Mal beobachtet, wie sein Nachbar – Matty – mit seinem Fahrrad davonfuhr. Ob er jedes Mal zu seinem festen Freund fuhr? Und wie der wohl war? Auf jeden Fall ein Glückspilz, dachte Wolf.
Flo ging jetzt jeden Tag rüber in die Bäckerei, um sich einen Kaffee zu holen. Und dabei hatte Wolf den Kaffee mittlerweile ausgetauscht. Jetzt schmeckte er sogar ganz gut. Immer wenn Pearl zurückkam, grüßte sie ihn von Matty und zwinkerte ihm dabei zu. Und jedes Mal rollte Wolf mit den Augen und ignorierte sie. Tatsache war aber, dass Wolf sich mehr als einmal dabei ertappt hatte, wie er gegen Ladenschluss der Bäckerei ans Fenster getreten war, um Matty davonradeln zu sehen. Er war wirklich genau sein Typ Mann. Kräftige Unterarme, schlanke Figur, schmale Hüften, breite Schultern, die aber nicht zu breit waren. Blonde Haare, freundliche Augen. Und anscheinend war er auch noch nett und konnte backen.
Während er seinen Gedanken nachhing, huschten seine Finger über das Papier. Nach ein paar Minuten sah Wolf auf seine Zeichnung. Er drehte sie ein wenig hin und her. Was sollte das denn sein? War das...? Er beugte sich ein wenig vor. Ein...Muffin? Ja, dachte er, dass sah irgendwie wie ein eckiger, stilisierter Muffin aus.
Na großartig. Mit einem genervten Grummeln zerknüllte er die Zeichnung. Dann trank er die Flasche Bier in einem Zug aus, machte das Licht aus und ging nach Hause. Das fehlte ihm gerade noch, dachte er, als er auf sein Motorrad stieg. Er musste sich seinen Nachbarn und seine lange Beziehungs-Durststrecke aus dem Kopf schlagen. Muffins! Pah. Er würde niemals, nie im Leben, süße Gebäckteile auf nackte Haut tätowieren. So weit kams noch.
DU LIEST GERADE
Tinte, Torte und Testosteron
RomantizmMatty liebt seine kleine Bäckerei in Amsterdam. Das Leben wäre perfekt, wenn da nicht neben ihm ein Tattoostudio aufgemacht hätte! Und der Eigentümer Wolf erst! Dunkelhaarig, tätowiert und mit einem Motorrad. Matty weiß 100% dass es mit Wolf zu tun...