Kapitel 5: Erste Blicke

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Matty

Es dauerte noch fast eine Woche, bis Matty seine neuen Nachbarn zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Er kniete gerade vor der kleinen Tafel vor seiner Bäckerei, um sie mit den Tagesangeboten zu beschriften (Schinken-Käse Croissants und Beerentarts), als das Geräusch eines Motorrads durch die Straße dröhnte. Das tiefe Brummen ließ seinen Magen zittern. Genervt wegen des Lärms verzog Matty das Gesicht und sah dem Motorrad entgegen. Matty hatte das Motorrad jeden Morgen gehört, doch er war bisher immer mit irgendwas beschäftigt gewesen und hatte seinen Nachbarn nicht gesehen. Jetzt hielt das Motorrad auf dem kleinen Fahrradabstellplatz vor dem Tattoostudio. Matty lugte über die Tafel.

Auf dem Motorrad saß ein Mann mit schwarzen Jeans, Biker Boots und einer schwarzen Lederjacke. Wegen des Helms konnte Matty sein Gesicht nicht sehen, aber als der Mann von dem Bike stieg, starrte Matty unwillkürlich seine langen Beine und die straffen Oberschenkel in der engen Hose an. Dass er in den Dingern überhaupt Motorrad fahren konnte...Noch während Matty den Mann betrachtete, zog der sich den Helm vom Kopf. Darunter kamen schwarze, seidige Haare zum Vorschein. Der Mann stieg vom Motorrad und fuhr sich mit einer Hand durch seine Haare. Matty bekam einen vollen Blick auf seinen Hintern und merkte, wie er rot wurde. Dann trat der Mann zur Tür zum Geschäft, sperrte sie auf und verschwand im Haus. Dabei drehte er sich nicht einmal um.

Mit pochendem Herzen sah Matty noch einen Moment zum Nachbarhaus, dann ging er wieder in seine Bäckerei. Fast fühlte es sich an, als ob er etwas Verbotenes getan hätte, indem er seinem neuen Nachbarn zugesehen hatte. Erst eine halbe Stunde später fiel im auf, dass er die Tafel gar nicht zu Ende beschriftet hatte.

~*~

Wolf

Pearl hatte vorgeschlagen, die Eröffnung des Ladens groß anzukündigen, aber Wolf war dagegen gewesen. Er mochte es nicht, wenn er im Mittelpunkt stand. Seine Stammkunden würden den Weg zu ihm schon finden. Außerdem hatten sie eine sehr professionell aussehende Webseite und in einer Zeitschrift für Tattookunst inseriert, sowie einen Instagram Account, auf dem sie beide regelmäßig posteten. Dort hatten sie die Eröffnung angekündigt. Das musste reichen.

Ein kleiner Teil von ihm zweifelte allerdings, ob das die richtige Entscheidung war. Schließlich musste er einen nicht gerade kleinen Kredit abzahlen. Je mehr Kunden er hatte, desto besser würde er schlafen können. Aber am Ende war seine Sorge unbegründet gewesen.

Das Legendary hatten noch keine halbe Stunde geöffnet, als schon der erste Kunde vor der Tür stand. Es war einer von Wolfs Stammkunden und als er erfuhr, dass er der erste Kunde des Legendary überhaupt war, grinste er breit. „Na, wenn das so ist, dann muss ich das festhalten, nicht wahr?" Und so tätowierte ihm Wolf nicht nur das gewünschte Kreuz auf den Oberarm, sondern auch eine stilisierte „1" auf den Knöchel.

Auch Pearl wurde bereits am ersten Morgen von einer Kundin besucht und bevor Wolf und Pearl es sich versahen, surrten ihre Maschinen im Gleichtakt vor sich hin. Als er und Pearl ihre Kunden zufrieden verabschiedet hatten, kochten sie sich einen Kaffee und setzten sich in die lederne Sitzecke.

„Igitt, der schmeckt ja wie Spülwasser!" sagte Pearl, verzog das Gesicht und stellte ihren Becher auf den Tisch. Heute trug sie zur Feier des Tages einen schicken Overall in schwarz, dazu knallroten Lippenstift und goldene Ohrringe. Durch den tiefen Ausschnitt des Overalls konnte man ihre farbenfrohen Tattoos am Hals und Schlüsselbein sehen.

„So schlimm ist es nicht", erwiderte Wolf und nahm selber einen Schluck. Er versuchte, das Gesicht bei dem grässlichen Geschmack nicht zu verziehen, doch er schaffte es nicht.

Pearl lachte. „Siehst du? Er ist furchtbar. Wo hast du den Kaffee denn gekauft?"

Er hatte den Kaffee als 10-Kilo-Paket auf dem Albert Cuypmarkt gekauft, in der Hoffnung, ein wenig Geld zu sparen. Das rächte sich jetzt, denn wie es aussah, hatte ihm der Verkäufer alten, abgestanden Kaffee angedreht. Doch diese Blöße würde er sich gegenüber Pearl nicht geben. „Ich weiß gar nicht, was du hast", sagte er und nahm demonstrativ noch einen Schluck, wobei er versuchte, ihn nicht gleich wieder auszuspucken. „Ist vielleicht ein wenig bitter."

„Mit dem Zeug kannst du den Abfluss reinigen", war Pearls Antwort. „Den können wir unseren Kunden nicht anbieten. Und ich trink das Zeug auch nicht." Sie stand auf und zog sich ihre Jacke an. „Ich hole mir einen Kaffee in der Bäckerei nebenan. Soll ich dir einen mitbringen?"

Wolf überlegte kurz, ob er nachgeben sollte, doch als er das herausfordernde Funkeln in Pearls Augen sah, schüttelte er den Kopf. „Für mich ist der Kaffee gut genug, danke."

Pearl seufzte und als sich die Tür hinter ihr schloss, meinte er zu hören, dass sie "Männer", murmelte. Trotzig nahm er noch einen Schluck, aber der Kaffee schien mit jedem Schluck schlimmer zu werden. Halb würgend goss er den Kaffee in den Ausguss und nahm sich vor, morgen still und leise ein frisches Paket Kaffee mitzubringen.

Während Pearl hinüber zur Bäckerei ging, holte er seinen Skizzenblock hervor und begann zu zeichnen. Auch wenn die meisten Tattoo Artists ihre Entwürfe digital auf einem Tablet anfertigten, so hatte ihn ein Tablett nie gereizt. Das Display war zu glatt, zu hell und der Stift zu schmal und schwer. Wolf mochte es altmodisch und erstellte seine Entwürfe klassisch auf Papier.

Pearl hatte sich auf Fantasy Motive spezialisiert, übte sich aber auch an den Standard Tattoos, die vor allem Touristen und Verliebte haben wollten. Herzen, Sterne, Kreuze, Schädel, solche Sachen. Wolf hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, betrunkene oder bekiffte Kunden nicht zu bedienen, da sie das Tattoo am nächsten Tag oft bereuten, aber Pearl kannte diese Skrupel nicht. Sie hingegen weigerte sich, Frauen zu tätowieren, bei denen sie das Gefühl hatte, dass sie das Tattoo nur wollten, weil ihr Freund dabei war oder sie dazu drängte.

Wolf mochte vor allem schwarz-weiß Tattoos mit klaren Linien und Formen. Kein Schnick-Schnack, kein Getue. Schon vor ein paar Jahren hatte er sich auf geometrische Zeichnungen spezialisiert. Bei diesen Tattoos gab es nur gerade Linien, keine Rundungen. Auch wenn man es kaum glaubte, aber mit ein wenig Übung konnte man jedes Motiv mit geraden Linien zeichnen. Nicht viele Tattookünstler verstanden sich darauf und Wolf hatte sich über die Jahre einen gewissen Ruf bei diesen Motiven erarbeitet.

Aber jetzt wo er seinen eigenen Laden hatte, musste er wohl oder übel jeden Auftrag annehmen der reinkam. Die Miete bezahlte sich nicht von alleine.

Er sah aus dem Fenster und beobachtete gedankenverloren die Fahrradfahrer und Fußgänger. Als er gerade einem zügig dahinfahrenden Grachtenboot hinterhersah, verdunkelte ein Schatten das Fenster. Wolf lehnte sich zurück und sah hoch. Eine junge Frau stand vor der Scheibe. Sie hatte die Hände um die Augen gelegt, um besser sehen zu können. Sie trug trotz des frischen Märzwetters einen kurzen Rock, eine geblümte Bluse, dazu Stiefeletten und keine Jacke. Wolf wollte gerade aufstehen und die Tür für sie öffnen, als sich ihre Blicke trafen. Die Frau zuckte erschrocken zurück, starrte ihn eine Sekunde lang an und hastete dann davon.

Wolf stützte sich auf der Sofalehne ab und sah gerade noch, wie sie nebenan in der Bäckerei verschwand. Er lehnte sich wieder zurück. Das passierte manchmal. Leute, die sich noch nicht sicher waren, ob sie wirklich ein Tattoo wollten, schreckten davor zurück, einen Tattooladen zu betreten. Die meisten dachten bei Tattoos an grobschlächtige Schlägertypen in weißen Achselshirts. Oder an drogensüchtige Junkies mit dicken Ringen in den Ohren und Piercings am ganzen Körper.

Dabei waren Tattoos heute in der ganz normalen Gesellschaft angekommen. Banker hatten Tattoos. Anwälte und Richter, Lehrer, Hausfrauen und Polizisten. Es war schon lange kein Tabu mehr. Dennoch trauten sich viele Leute nicht, Tattoostudios zu betreten. Vielleicht, dachte er, stelle ich draußen ein „Willkommen" Schild auf, um genau solche Leute herein zu locken. Er schnaufte bei dem Gedanken daran, was Pearl dazu sagen würde.

Keine fünf Minuten später kam ebenjene mit einem großen To-Go Becher zurück, der herrlich nach frischem Kaffee duftete. Sie nahm demonstrativ einen großen Schluck, bevor sie ihn angrinste. „Alles klar, Chef?"

Es würde ein langer Tag werden.

Tinte, Torte und TestosteronWo Geschichten leben. Entdecke jetzt