Kapitel 30: Graue Wolken

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Wolf

„Und fertig", Wolf wischte mit einem feuchten Tuch über das Tattoo und begutachtete es. Die schwarzen Linien waren kräftig, die Grautöne gut gelungen. „Willst du es dir im Spiegel ansehen?"

„Klar!" Sein Kunde stand von der Liege auf und trat vor den großen Spiegel, um sein neues Wadentattoo zu begutachten. Er drehte sein Bein in alle Richtungen und Wolf hielt wie ein Friseur einen Spiegel, damit der Mann es richtig sehen konnte.

„Sieht geil aus."

Wolf selber fand das Design eher misslungen. Nicht, dass das Tattoo ihm misslungen wäre, nein, der Entwurf des Custom Tattoo war einwandfrei. Aber das Motiv, dass sich der Kunde gewünscht hatte, war nicht Wolfs Cup-of-tea. Es zeigte einen Totenschädel, dem ein Messer durch den Schädel gerammt worden war und dem Schlangen aus den leeren Augenhöhlen quollen. Wolf hatte solche Tattoos schon unzählige Male angefertigt, dass hieß aber nicht, dass er sie mochte. Er selber würde sich so etwas nie stechen lassen. Aber Geschmäcker waren verschieden. Zumindest konnte er für so ein großes Tattoo ordentlich was verlangen.

Wolf säuberte das Tattoo, überklebte es mit einem transparenten, antiseptischem Pflaster und reichte dem Kunden einen Flyer mit den Nachsorge Instruktionen. Er war gedanklich schon mit dem nächsten Kunden beschäftigt, als der Totenkopf-Mann ein abschätziges Geräusch ausstieß. Wolf sah hoch.

Der Mann hatte die Tür geöffnet und sah hinaus auf die Straße. Dann drehte er sich zu Wolf um. Sein Gesicht war vor Ekel verzogen. „So was sollte man verbieten. Glauben wohl, sie könnten uns alle umdrehen, mit ihrer Propaganda und ihren Slogans." Er spuckte auf die Straße. „Verdammte Missgeburten."

Pearl warf Wolf einen fragenden Blick zu, doch Wolf zuckte nur mit den Schultern. Er ging zum Fenster und sah hinaus. Sein Kunde deutete nach nebenan. „Da, was für eine Scheiße. Muss hart sein, neben so einem ein Geschäft zu haben", sagte der Kunde und deutete mit dem Kinn auf die Bäckerei.

Jetzt sah Wolf auch, was der Mann meinte. Über die Tür der Bäckerei hing an dem Fahnenmast eine neue, knallbunte Regenbogenfahne. Die Fahne flatterte im Wind und hob sich gegen die helle Wandfarbe ab.

Sein Kunde grunzte, dann spuckte er nochmal aus. „Den sollte man mal eine Lektion erteilen, diesem Pack."

Wolfs Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Wut kroch ihm durch die Adern und er ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte er seinem Kunden eine verpasst, ihm lebenslanges Hausverbot erteilt oder ihn in die Gracht geschmissen. Doch bevor er etwas sagen konnte, zog der Mann die Nase hoch und stolzierte davon. Wolf sah ihm hinterher, zwiegespalten zwischen dem Wunsch, dem Mann die Nase zu brechen und dem Wunsch, einen potentiellen Kunden nicht zu verlieren. Als er den Mann nicht mehr sehen konnte, ging er wieder hinein. Sein Herz pochte vor unterdrücktem Zorn.

„Was war denn?" fragte Pearl und hielt kurz mit dem Tätowieren inne. Die Frau, die auf ihrer Liege lag, sah ebenfalls hoch.

„Nichts," antwortete Wolf und machte sich daran, seine Liege zu säubern und zu desinfizieren. Dabei hatte er die ganze Zeit das Gefühl, als ob die Liege durch den Mann toxisch geworden wäre. Und er schämte sich, weil er nichts gesagt, nicht gehandelt hatte. Ja, er brauchte jeden Kunden, und zwar dringend. Aber hieß das auch, dass er solche Leute gewähren lassen musste? Dass er sich selber verleugnen musste?

Bei dem Gedanken, dass solche Typen sich nicht damit begnügen würden, nur zu reden, wurde ihm fast schlecht. Was, wenn dieser Typ zurückkam, um Matty etwas anzutun? Hatte vielleicht einer seiner Kunden die Blumentöpfe vor der Bäckerei zerstört?

Wolf lief es kalt den Rücken hinuter. Die Welt war voll von solchen Idioten, die meinten, dass jeder der Anders war als sie, eine Lektion verdient hatte. Sie fühlten sich persönlich angegriffen oder bedroht. Was lächerlich war. Nur weil Matty sein Leben lebte wie er wollte, bedeutete das nicht, dass er anderen etwas wegnahm. Und das Gleiche galt auch für ihn.

Tinte, Torte und TestosteronWo Geschichten leben. Entdecke jetzt