Was keiner wissen sollte

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In diesem Kapitel wird eine tiefgreifende und schmerzhafte Konversation zwischen JJ und Kiara entfaltet. Nach einem misslungenen Versuch, etwas Neues in ihrem Liebesleben auszuprobieren, steht JJ vor der schwierigen Entscheidung, bei Kiara ein Geständnis abzulegen. JJ ringt mit seiner Vergangenheit, während er gleichzeitig versucht, die Gegenwart zu bewältigen.

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Kie will wissen, ob es ihm gut geht. Ob er Wasser möchte. Ob er spazieren gehen will. Ob er über das reden will, was passiert ist. JJ will einfach nur Law and Order schauen. Sie sagt ihr Training im Fitnessstudio ab und kuschelt sich an seine Brust.

Drei Episoden später sitzt eine Yoga-Frau mit hohem Pferdeschwanz im Verhörraum mit Detective Green und weint. Also  wirklich heftig.

JJ schaut viel Law and Order. Die alte Version, nicht die neue, die nur noch von solchen Sachen handelt, aber es kommt auch in der klassischen Version oft genug vor. JJ überspringt normalerweise die Episoden, in denen jemand über eine Vergewaltigung weint, weil das für ihn keinen Sinn ergibt.  Warum weinen die alle so viel? Warum erzählen sie es überhaupt jemandem?

„Findest du es nicht seltsam, dass sie es allen erzählt hat?" fragt JJ.

Kie zieht sich zurück und schaut ihn an. „Die Frau da meinst du? Sie hat es doch nur ihrem Ehemann und der Polizei erzählt."

„Aber das sind so viele Leute. Und sie wird es auch dem Gericht erzählen und so."

Kie runzelt die Stirn und schaut kurz weg. „Willst du damit sagen, solche Menschen sollten niemandem von dem Missbrauch erzählen? Meine Güte, JJ. Das ist so abgefuckt."

Verdammt. 

„Nein. Ich meine damit nur, die meisten Leute erzählen es einfach niemandem."

„Woher willst du das überhaupt wissen, JJ--" Sie hört auf zu reden. 

JJ sieht, wie es in ihrem Kopf arbeitet, und sie versetzt ihm einen weiteren, entsetzteren Blick.

„Was?"

„Ich..." JJ spürt, wie das Gespräch ihm unter den Füßen weggleitet. „Ich glaube einfach nur, die meisten Leute erzählen es niemandem."

„Hast du es niemandem erzählt?" 

Es ist so verdammt direkt, so treffend, dass es JJ buchstäblich umhaut. Er fällt gegen die Lehne der Couch und bedeckt seine Augen.

„JJ. Raus damit." Sie schaltet den Fernseher aus und zieht seine rechte Hand von seinem Gesicht weg. „Ich muss es wissen."

„Nein, musst du nicht."

„Doch, wirklich."

Verdammt. Jetzt kann er auch gleich alles zugeben. Sie hat es jetzt eh schon rausgefunden.

„Ich wurde ein paar Mal vergewaltigt. Vielleicht so...dreißig Mal? Ich weiß nicht, ob das als 'ein paar Mal' zählt."

„Dreißig Mal?"

„Ich glaube eher nicht, dass es genau dreißig Mal waren." 

Sie starrt ihn an. 

„Können wir jetzt erstmal Kaffee machen?"

„Natürlich", sagt sie schnell.

Sie stehen einfach nur da und schauen der Kaffeemaschine beim Durchlaufen zu. Oder beim Tropfen. Oder Perkolieren. Oder was auch immer.

„Ähm", sagt Kie langsam. „Wann war das?"

JJ atmet tief ein. „Irgendwann von der Unterstufe bis zum Anfang des zweiten Jahres auf der Highschool."

Sie nickt nur. „Wann während der Unterstufe?"

„Weiß ich nicht mehr."

„Du weißt es nicht mehr?"

„Nein."

„Das..." Kie atmet laut ein. „Ich glaube dir. Ich glaube dir."

„Aber?" fragt JJ.

„Aber nichts. Ich meine... Kannst du mir mehr erzählen? Willst du das?"

Nein. Aus tiefstem Herzen will JJ ihr nicht mehr erzählen. Er hat so lange verdammt gute Arbeit geleistet, das alles geheim zu halten. Und das in einer Stadt, in der jeder wusste, dass Luke ihn verprügelte, sobald sich der Wind nur falsch drehte. Und selbst in diesem Fall  war es ja kaum so, dass JJ herumlief und sagte: „Sieh dir dieses blaue Auge an. Rate mal, wie ich das bekommen habe." Trotzdem wussten es alle. 

Aber er ist sich fast sicher, dass niemand außer Big John, Dad und den Perversen davon wusste, was sonst noch passiert war. Warum sollte er das jetzt ruinieren? Kie hat bis jetzt nichts davon geahnt. Sie hat zumindest nie danach gefragt. 

„Du glaubst mir nicht, oder?"

Kie lacht kurz, hört dann aber sofort auf. „Ich habe doch gerade gesagt, dass ich dir glaube."

„Aber du weißt doch noch gar nichts. Du wirst deine Meinung vielleicht ändern."

Sie nimmt seine Hand und beginnt, seine Handfläche zu kneten, was er normalerweise mag. Nur nicht jetzt. Er zieht seine Hand weg. 

„JJ, ich kenne dich, wenn du lügst. Ich weiß, dass du jetzt die Wahrheit sagst. Ich möchte nur, dass du mir alles erzählst."

Er steht auf, um den Kaffee einzuschenken. Schwarz für ihn, mit zwei Schuss Milch für sie. Er lässt sich Zeit, die Tassen für beide  auszuwählen. Das dauert gute drei Minuten. Er gibt Kie ihre Tasse und sie nimmt die Füße von seinem Stuhl, damit er sich wieder hinsetzen kann.

„Hey", sagt sie, „selbst wenn ich dir nicht glauben würde, was ich definitiv tue, wenn du lügen würdest, wärst du jetzt schon bei deinem dritten Monolog."

Er zwingt sich zu einem Lächeln. „Ich versuche nur, mir Witze darüber auszudenken. Aber dazu fällt mir gerade echt keiner ein."

„Kann ich dir eine einfache Frage stellen?" fragt sie.

„Welche?"

„Wie...wann? Ich meine, ich weiß, in welcher Altersstufe – scheiße. Aber wir hätten es doch gewusst, wenn wir in der Nähe gewesen wären, oder? Also war es zu der Zeit, als du auf diesem Dampfer warst mit deinem Dad? Oder – ich meine, mir fällt keine andere Zeit ein, in der du nicht mit uns abgehangen bist. Also war es da, wo du auf dem Dampfer warst?"

JJ versucht zu verstehen, was sie sagt. „Ihr wart sowieso nie dabei. Das ist so seltsam, dass du mich danach fragst."

„So meine ich das nicht. Aber es ist doch offensichtlich nicht an den Tagen passiert, an denen wir dich gesehen haben. Das hätten wir doch gewusst."

Er schüttelt den Kopf. „Nein. Es passierte nie auf einem Boot. Ich meine... scheisse,  vielleicht doch! Ich hab keine Ahnung. Es passierte einfach ständig, die ganze Zeit. Ich habe euch immer danach gesehen. Es passierte samstags. Und nach der Schule. Und vor der Schule und  währenddessen, schätze ich auch mal. Aber nicht in der Schule. Glaube ich zumindest. Genau weiß ich es nicht."

Sie runzelt die Stirn. „Nein. Also nicht – oder haben wir dich am nächsten Tag nicht gesehen oder so?"

„Du glaubst mir nicht", sagt JJ.

„Doch, ich verstehe es nur nicht."

„Manchmal habe ich euch schon drei Stunden danach gesehen. Ihr habt es einfach nicht gewusst."

„Warum hast du es uns nicht erzählt?"

Er nimmt einen Schluck Kaffee, und plötzlich schmeckt er wie Gift in seinem Mund. 

Dieses eine Mal...Dieses eine Mal vor der Schule...

Er steht auf, spuckt den Mund voll Kaffee ins Spülbecken und  kippt den Tasseninhalt hinterher. Er steckt den Kopf unter den Wasserhahn, trinkt und  spült danach schnell wieder seinen Mund aus.

„Warum –"

„Frag jetzt gerade nicht weiter, okay?"

JJ Maybank: SurviveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt