Im August ziehen sie weiter nach Oaxaca. Es ist ihr Plan, bis Ende Oktober dort zu bleiben, und sie wissen noch nicht genau, wohin es danach geht, aber das müssen sie auch noch nicht wissen. Seit JJ es Kie erzählt hat, sind vier Monate vergangen, und sie hat das Thema seither erst zweimal angesprochen.
Eines Tages, während sie beide im Badezimmer Zähne putzen, spuckt Kie ins Waschbecken und fragt ohne Vorwarnung: „War das eigentlich der Grund dafür, weshalb du manchmal bei John B einfach so eingeschlafen bist? Du warst dann stundenlang nicht wachzubekommen."
„Ja, war es", sagt JJ.
„Oh."
Dann reden sie wieder einen Monat lang nicht mehr darüber.
JJ liebt Oaxaca und hätte nichts dagegen, ein paar Monate mehr im Jahr hier verbringen zu können. Er hat zuerst Spanisch gelernt, lokale Freundschaften geschlossen und kennt dort die besten Orte, um irgendetwas bestimmtes zu besorgen . Es fühlt sich komisch an, jetzt selbst sowas wie ein Tourist zu sein, aber er versucht, so gut es geht, sich anzupassen. Er und Kie surfen immer dann, wenn sie die Touristenströme meiden können, und trinken erst abends am Strand etwas, wenn es schon dunkel wird.
Sie wachen am Nachmittag auf und Kiara durchsucht die Küche nach etwas Essbarem.
„Wir haben nur noch trockene Pasta", sagt sie.
„Igitt."
„Könntest du in die Stadt gehen und Tortillas, Cotija, Eier und Hähnchen holen, wenn sie welches haben? Den üblichen Rest auch?"
„Was ist mit Bier?"
„Ja, klar! Natürlich auch Bier."
JJ geht in die Stadt, die Leinensäcke unter den Arm geklemmt. Es ist geschäftig, die Menschen strömen an den bunt bemalten Gebäuden vorbei. Die Geräusche der Gespräche sind ihm vertraut, und der Weg ist so einfach, dass er aufhört, darauf zu achten. Als er um eine Ecke biegt, hört er eine bekannte Stimme die Menge durchdringen.
„JJ!"
Er bleibt so abrupt stehen, dass jemand in ihn hineinstößt. „Lo siento", sagt er schnell und tritt aus der Menge, um nach der Stimme zu suchen.
Er benutzt in verschiedenen Ländern Varianten von Jonah, seinem Vornamen. „JJ" übersetzt sich hier nicht gut, und keiner der Einheimischen, die ihn kennen, würde ihn so rufen.
JJ hat einen leisen, kalten Verdacht, wer nach ihm ruft, und dieser bestätigt sich, als jemand plötzlich seinen Arm packt. JJ reißt sich los und schlägt zu, obwohl er weiß, wer es ist, und dass Zurückschlagen die Sache nur noch schlimmer machen würde.
Dad steht vor ihm. Er sieht aus...Er sieht aus wie ein verdammter Drogenabhängiger, der kurz vor dem Sterben steht. Er ist knochendürr. Seine Wangenknochen scheinen in sein Gesicht zu schneiden, das aussieht, als gehöre es einem Sechzigjährigen. Sein Haar ist noch dicht und grau, aber es sieht aus, als hätte er sich in einem Staubhaufen gewälzt und wäre gerade aus dem Bett gekommen. Dad sieht aus wie ein Bettler von der Straße. Niemand würde ihn eines zweiten Blickes würdigen. JJ erblickt den Becher in seiner Hand und erkennt dann, dass Dad genau das ist.
„Hi", sagt er.
Dad hält sich an seiner Schulter fest und mustert JJ. Seine Hand fühlt sich an wie ein Metallgriff, der seine Haut durchdringt. „Schau dich an."
JJ merkt, dass er nicht hyperventiliert. Seine Hände werden nicht taub. Er fühlt sich nicht so, als müsse er gleich kotzen oder ohnmächtig werden. Vor ihm steht nur ein alter Mann. Es ist nur ein alter Mann, dem er nichts schuldig ist.
Er zieht seinen Arm aus Dads Griff.
„Heroin?", fragt er.
Dad lächelt und streicht ihm übers Gesicht. „Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Ich habe sieben Leben."
JJ beobachtet Dad und überlegt, was er erwidern soll. Ein Teil von ihm will Dad nach Hause bringen und auf der Couch schlafen lassen, bis er wieder gesund wird. Aber er wird nicht gesund werden. Er wird immer derselbe Mensch bleiben, der er immer war, nur ist es jetzt noch trauriger. JJ hat eine Menge Geld in seiner Tasche, er könnte Dad für eine Woche irgendwo ein Zimmer bezahlen.Aber er braucht das Geld für Tortillas, Käse und Hähnchen. Dad wird bald sterben. Das sieht er. An einer Überdosis oder einer infizierten Einstichstelle oder von jemandem, der ihn wegen irgendwelcherSchulden umbringt. Er wird innerhalb eines Jahres tot sein.
JJ wollte sich mal umbringen, oder er wollte Dad umbringen, wenn es nicht aufhören würde.
Und er hat sich nicht umgebracht. Und es hat trotzdem aufgehört. Alles, was übrig bleibt, ist, Dad zu töten, aber es sieht so aus, als würde sich das schon von selbst erledigen.
JJ sollte sich nicht die Hände an einem Monster schmutzig machen, das ihm für den nächsten Schuss in den Kopf schießen würde.
„Wiedersehen", sagt JJ.
Dad sieht überrascht aus. Er schaut weg, auf den Boden, und dann wieder zu JJ. „Wiedersehen, JJ."
JJ geht weg. Je weiter er sich entfernt, desto leichter fällt es ihm, den panischen Jungen in seinem Kopf zu beruhigen, der ihm sagt, er solle alles andere liegen lassen und Dad retten, weil das nun mal seine Aufgabe ist. Das war sein alter Job. Es war ein beschissener Job. Das ist jetzt vorbei.
Kiara summt glücklich, als JJ mit den Einkäufen zurückkommt. Sie beginnt, die Sachen wegzuräumen. „Okay, ich find es echt toll, dass du einkaufen gegangen bist, aber ich habe jetzt irgendwie doch Lust, in die Stadt zu gehen und Essen zu holen, damit wir nicht kochen müssen. Wäre das okay für dich?"
Er hängt die leeren Leinensäcke an ihren Platz. „Nein, eigentlich nicht. Ich bin meinem Dad begegnet. Ich möchte lieber noch eine Weile warten, bevor ich zurück in die Stadt gehe."
Sie nickt, als wäre es keine große Sache, obwohl es das ist. „Okay. Du weißt aber schon, dass ich gerne die Gelegenheit ergreifen würde, ihn um die Ecke zu bringen.
„Er wird wahrscheinlich sowieso bald von alleine sterben", sagt JJ. „Lass uns lieber Essen machen."
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JJ Maybank: Survive
General FictionEs geht um das Thema Missbrauch und Zwangsprostitution. Sexuelle Details werden weitestgehend vermieden. Es geht lediglich um die Gefühlswelt und den Auswirkungen des Missbrauchs aus Sicht des Opfers. Die Figur des JJ Maybank aus der Serie Outer Ban...